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Von der Freiheit des Unbekannten

Untertitel
Ein Gespräch mit Heinz-Klaus Metzger – Von Stefan Amzoll
Publikationsdatum
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Heinz-Klaus Metzger war Teilnehmer auf dem Symposium der Akademie der Künste Berlin „Freiheit Kunst“ (im Rahmen der Eröffnung des neuen Gebäudes der Akademie der Künste am Pariser Platz in Berlin am 27./28. Mai 2005). Sein Vortrag „Über einige Facetten der Autonomiefeindschaft“ wird in der November/Dezember-Ausgabe von „Sinn und Form“ erscheinen. Für die neue musikzeitung sprach Stefan Amzoll vorab mit dem Publizisten, Musikologen und Herausgeber.

nmz: Sie fragten sinngemäß auf dem Symposium der Akademie der Künste Berlin „Freiheit Kunst“: Wie ist es um die Freiheit von Kunst bestellt, wenn die ökonomischen Interessen und deren Stoßtrupps, die maßgeblichen Staaten, immer aggressiver durch die Weltmärkte knüppeln und auszubeuten und zu unterjochen suchen, wo noch Blut pulsiert und Kraut wächst, und dabei mitunter ganze Bevölkerungsgruppen und nationale Ökonomien austilgen?

Heinz-Klaus Metzger: Was diese Mächte wollen, ist allerdings auch Freiheit: Es ist das freie Unternehmertum, die Unternehmensfreiheit, free enterprise. Und – wie nennen die das – free exchange: der freie Austausch der Waren. Was keine Ware ist, das soll nicht mehr geduldet werden. Ich glaube, die erste politische Kommandeuse, die das unmissverständlich aussprach und dabei das Wort „Kunst“ in den Mund nahm, ist Margaret Thatcher gewesen, die kurz nach ihrem Antritt als Regierungschefin von Großbritannien – natürlich nicht wirklich amtlich, aber doch offiziös genug – in der Öffentlichkeit proklamierte: „Kunst, die sich nicht verkauft, hat kein Existenzrecht.“ Und in dieser kommerziellen Optik ist natürlich auch Kunstförderung etwas Ähnliches wie die Subvention der Steinkohle oder anderer Dinge, die ökonomisch offenbar sinnwidrig sind, wobei nicht interessiert, dass daran Existenzen hängen. Eine Frage wie der Wahrheitsanspruch von Kunst ist fürs Geschäft, und das gilt auch fürs Geschäft mit der Kunst, noch uninteressanter.

nmz: Sie knüpfen an Theodor W. Adornos „Resumé über Kulturindustrie“ von 1964 an und formulieren, wie die Dinge heute laufen. Übertrifft, was heute läuft, Adornos Beobachtungen?

Metzger: Ja, bei weitem. Der Text ist natürlich prophetisch. Die erste Theorie der Kulturindustrie ist übrigens in der von Adorno gemeinsam mit Max Horkheimer verfassten „Dialektik der Aufklärung“ enthalten, „Aufklärung als Massenbetrug“ lautet der Untertitel des einschlägigen Kapitels, das eines der großen Fragmente der Philosophiegeschichte ist.

nmz: In Amerika während des Zweiten Weltkriegs entstanden, wurde das Buch in Europa gedruckt.

Metzger: Die „Dialektik der Aufklärung“ erschien erstmals 1947 in einem Emigrantenverlag in Amsterdam, der während der Nazi-Okkupation ein klandestiner, illegaler Verlag des antifaschistischen Widerstands gewesen war. Adorno/Horkheimer schrieben es unter dem Eindruck der Herrschaft der amerikanischen Unterhaltungsindustrie.

nmz: Das Kulturindustrie-Kapitel ist nicht fertig geworden. Man entnimmt es dem in Klammern stehenden Schluss: „fortzusetzen…“

Metzger: Fortgesetzt wurde stattdessen die Kulturindustrie und diese hat inzwischen Ausmaße des Totalitären angenommen, von denen Horkheimer und Adorno sich noch nichts träumen ließen. So mussten sie wenigstens nicht mehr miterleben, dass weltweit die Popmusik zum propagandistischen Hauptinstrument der Jungnazis geworden ist, mit Schwerpunkten in den Vereinigten Staaten und in Ostdeutschland. Aber auch die Spielarten, die auf Mordhetze verzichten und sich libertär geben, halten die schutzlose Bevölkerung eisern im Griff.

nmz: Das klingt hoffnungslos.

Metzger: Es gibt ja kaum noch ein Entkommen. Wenn Sie Hunger haben und in ein Restaurant essen gehen wollen, dann bekommen Sie fürs Erste nichts zu essen, sondern aus den Lautsprechern quillt dieser Unrat. Sie werden nicht gefragt, ob sie den hören wollen, sondern der wird Ihnen aufgezwungen. Es ist eine wirkliche Diktatur, sie ist ubiquitär und jedenfalls bestrebt, keinen Ort auf der Erde mehr auszulassen. Das geht flächendeckend über den Globus und zeitlich rund um die Uhr. Sie haben’s überall, beim Zahnarzt, beim Coiffeur, im Flugzeug und auf den öffentlichen Toiletten; die Ausscheidungen müssen genauso unter dieser Einwirkung vorgenommen werden wie die Einnahme des Essens. Ob Sie die Ware zu sich nehmen oder die unverwertbaren Reste der Ware, die Sie zu sich genommen haben, wieder ausscheiden, der Anspruch der Kulturindustrie, diesen Vorgang zu begleiten und das Bewusstsein einzutrüben, das ja im Prinzip nie aussetzt, außer in Fällen der Bewusstlosigkeit, bleibt auf demselben Niveau.

nmz: Noch im Schlaf setzt das Bewusstsein nicht ganz aus.

Metzger: Wenn der Mensch träumt, wird Unbewusstes verschlüsselt bewusst. Der Traum ist die einzige realitätsunabhängige Möglichkeit der Erlebnisverarbeitung, über die wir verfügen. Und nun ereilt uns aus Hans Zenders neuer Oper „Chief Joseph“ noch die Weisung, niemals zu arbeiten: „Wer arbeitet, kann nicht träumen.“

nmz: Im Traum wohnen Freiheitsgefühle, wie wir sie sonst nicht erleben.

Metzger: Ja, es ist eminent wichtig, dass man träumen kann. Aber währenddessen läuft vermutlich bei unzähligen Menschen die Beschallung weiter. In der realen Öffentlichkeit sieht man dann diese Leute mit dem Walkman rumlaufen, der die elektrische Dauerbeschallung der Ohren garantiert, und dies auf eine liebenswürdigerweise die Mitmenschen schonende Art, so dass sie dagegen nicht protestieren können, weil sie es nicht hören. Aber manchmal zischt es aus den Apparaten so laut, dass man das Inferno hört. Man kann sich vorstellen, wie es in den Ohren der Betreffenden dann dröhnt. Das ist eine gute Einübung ins später notwendig werdende Hörgerät.

Komplex Kulturindustrie

nmz: Kulturindustrie heute. Sie ist weltweit ein Riesenkomplex geworden mit steigenden Mitarbeiterzahlen und einem enormen Produktausstoß. Da sie von den populären Beschallungsprodukten sprachen, die die Ohren ruinieren, vielleicht gab es in der Popkulturindustrie überhaupt den ersten großen Globalisierungsschub der modernen Geschichte mit den dazugehörigen kapitalen Gewinnen. Wogegen der ernst zu nehmende Bereich offenkundig immer mehr zusammenschrumpft. Sie sagten, in hiesigen Breiten sei nun auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk ins kommerzielle Fahrwasser geraten und drohe zu zerspringen.

Metzger: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist als kulturelles Medium extrem bedroht. Kürzlich hat der Musikchef von Radio Berlin-Brandenburg, Christian Detig, sich bei der Moderation einer Sendung sogar ausdrücklich auf die berüchtigte Rede von Joseph Goebbels zur Eröffnung der Rundfunkausstellung 1936 berufen, in der dieser „Entspannung und Unterhaltung“ als Hauptfunktion des Rundfunks im Nazireich postuliert hatte; Detig distanzierte sich zwar von der unseligen Person des Reichspropagandaministers, machte sich aber inhaltlich dessen Forderung zu eigen. Als der diesem Funkfunktionär unterstellte langjährige und verdienstvolle Fachredakteur für Neue Musik, Martin Demmler, den Skandal denunzierte, wurde er sogleich fristlos gefeuert.

nmz: Demmler musste – offenbar auf Anordnung desselben Funkfunktionärs – seit Beginn des Jahres 2004 ohne einen Cent für Freie Mitarbeiter auskommen, der Etat wurde gestrichen und, wie das heute üblich ist, in den Unterhaltungskomplex transferiert. Der Ärmste musste fortan sämtliche Neue-Musik-Programme alleine produzieren, für dasselbe Geld. Wer einer Gesamtheit von Freien Mitarbeitern die Chance nimmt, in eigener Auswahl, Lesart und Handschrift Sendungen anzubieten, der vernichtet Vielfalt. Demmler hat offenbar auch hiergegen opponiert. Wie stranguliert man den Rest Neue Musik im Programm, um Raum für „Entspannung und Unterhaltung“ zu schaffen? Indem man den letzten engagierten Mohikaner an die Luft setzt. Verzeihen Sie, wenn ich ein bisschen ausgeholt habe. – Die Rundfunksinfonieorchester sind ja gleichfalls gefährdet.

Kulturauftrag Rundfunk

Metzger: Es gibt hier eine Initiative, deren Schlüsselfigur Peter Voß ist, der Intendant des Südwestrundfunks, um das alles abzubauen. Ich zitiere: „Musikgeschichte wird im Rundfunk nicht mehr geschrieben werden.“ Dem will er also ein Ende bereiten. Der gesetzliche Kulturauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, dessen Erfüllung ein Teil der Legitimationsgrundlage seines Gebührenanspruchs ist, wird von Voß umdefiniert: Produktion von Kultur soll unterbleiben, also auch das Komponieren nicht länger gefördert, sondern nur noch das dokumentiert werden, was auf dem freien Markt gerade läuft.

nmz: Ein gefährlicher Gedanke.

Metzger: Natürlich, die ernst zu nehmende Produktion würde einen Teil ihrer materiellen Existenzgrundlage verlieren. Denn die Rundfunksinfonieorchester und -chöre stellen hierzu-lande Leuchttürme einer relativ marktunabhängigen, kunstorientierten Programmpolitik dar. So war es auch in Italien, dem ersten europäischen Land, dessen Musikkultur systematisch zerschlagen wurde. Inzwischen hat Berlusconi, dem die Fusion von Unterhaltungsindustrie und Staatsmacht gelang, den Resten des Musiklebens vollends den Garaus gemacht. Langfristig droht eine vergleichbare Liquidation der Kunstmusik auch hier. Eine völlig andere Einstellung haben die Hörfunk- und Fernsehgewaltigen natürlich zur Unterhaltung. Den Schwachsinn sollen ihre Anstalten keineswegs bloß dokumentieren, sondern sie sollen ihn produzieren.

nmz: Ohne größere Gegenwehr Kultur zu beseitigen, ist auch eine Form von Freiheit. Halten wir uns bei dem Wort etwas auf. Es hat viele Facetten. Immer freier in ihren Spielräumen scheinen die zu agieren, die von ihren Luxusstränden aus die Börsenkurse beeinflussen und Produktionsverlagerungen von Kontinent zu Kontinent steuern.

Metzger: Weiß ich nicht einmal. Die unterliegen auch ihren Zwängen, deren Absurdität sich jemand, der noch bei Trost ist, nicht immer vorstellen kann. Letztlich haben diese Verfügenden nur die Freiheit, die sie anderen vorenthalten, aber wenn sie einen Fehler machen, den sie nicht durch Entlassungen reparieren können, sind sie pleite. Ich habe an einer Stelle meines Vortrags von den „ökonomischen Imperativen“ geredet. Das sind keine Personen, die befehlen, sondern Sachverhalte.

nmz: Solche Sachzwänge werden von den Unschuldsbrüdern häufig herbeigeredet.

Metzger: Ja, diese Entschuldigung wird oft vorgeschoben, als würden die Manager ihre schweinischen Entscheidungen mit blutendem Herzen treffen. Aber zugleich ist natürlich auch etwas daran. Es handelt sich um das, was Hegel, der Idealist, der auf seine Weise ein großer Materialist war, den objektiven Geist nannte. Wenn bei Hegel das Wort „Geist“ erscheint, geht es immer um eine Sache, die Marx sehr leicht vom Kopf auf die Füße stellen konnte. Der objektive Geist ist bei Hegel geradezu eine materielle Gewalt, die sich über die Köpfe der Subjekte hinweg durchsetzt. Wenn ein Gremium über irgendetwas berät und in einem mehr oder minder schwierigen Willensbildungsprozess so weit kommt, dass die Sache entschieden wird, dann springt als Resultat immer etwas dabei raus, was keiner gewollt hat. Es war halt das Einzige, das durchsetzbar war. Ich habe darüber als Jüngling einen Aphorismus formuliert: Ein Kamel ist ein Pferd, das von einem Gremium entworfen wurde.

Der Begriff Freiheit

nmz: Was haben Sie für einen Freiheitsbegriff?

Metzger: Die Freiheit eines wohl nur vermeintlich freien Geistes, der außer seiner Geistesfreiheit nichts hat, also nicht einmal in der Lage ist, seine Arbeitskraft zu verkaufen, sondern der nur seine geistige Freiheit verkaufen kann, was eine Form der Prostitution ist, über die ich mich jetzt nicht weiter auslassen will, – der glückliche Eigentümer einer solchen Freiheit hat auf diesem leidigen und komplizierten Gebiet, wie Sie sich denken können, eine immense Erfahrung. Diese Freiheit nennt man Vogelfreiheit. Wer sie besitzt, ist ungeschützt, kann machen, was er will.

nmz: Warum dieses Privileg?

Metzger: Weil es nicht drauf ankommt. Und davon zu leben, wird Jahr für Jahr schwieriger, fast unmöglich. Soll ich von einer Gesellschaft träumen, in der diese Freiheit verallgemeinert sein wird, also endlich allen Menschen zuteil wurde? Auf die Gefahr hin, autozynisch – wörtlich übersetzt „selbst ein Hund“ – zu sein, will ich doch bekennen, dass mir diese Freiheit so nötig wie die Atemluft ist.

nmz: Negativ besetzt ist das Wort Freiheit auch bei Adorno, mit dem Sie im Briefwechsel standen (ein Band erscheint demnächst bei Suhrkamp). Existent werde Freiheit erst durch bestimmte Negation gesellschaftlicher Unfreiheit, sagt Adorno. „Zugleich macht der Schein der Freiheit die Besinnung auf die eigene Unfreiheit unvergleichlich viel schwerer, als sie im Widerspruch zur offenen Unfreiheit war, und verstärkt so die Abhängigkeit.“ Derartige Feststellung ging (und geht) an die Adresse der bürgerlichen Kulturkritik, die sich einbildet, politisch-kritische Freiheit a priori zu besitzen. Gibt es keine Freiräume?

Metzger: Doch, aber um welchen Preis bewegt man sich darin!

nmz: Die Staaten des Westens definieren sich als freiheitlich, demokratisch. Die derzeitige US-Regierung hat das offenkundig so extrem verinnerlicht, dass sie die ganze Welt darauf trimmen will. Eine Horrorvorstellung. Charles Ives, Komponist, US-Bürger, frei in seinen Ansichten, frei in seinen Kompositionen, ein Freiheitlicher, wie er im Buche steht – stimmt das?

Metzger: Charles Ives hat sich in Amerika ähnlich wie Kafka in Prag einen Freiraum als Autor durch eine Karriere in einem Versicherungsunternehmen finanziert. Wobei Ives enorm erfolgreich war – er hat klein, als Angestellter, angefangen und saß schließ-lich in der Direktion eines der größten Versicherungskonzerne der USA. Eine beispiellose Karriere. Die Karriere von Kafka in Prag war viel bescheidener, aber beide haben von ihrer Tätigkeit in der Versicherungsbranche ihre Existenz bestreiten können und waren infolgedessen nicht darauf angewiesen, ihre Kunst zu verkaufen. Ives war nicht an Aufführungen seiner Kompositionen interessiert, Kafka suchte Veröffentlichungen seiner Texte eher zu verhindern und ordnete testamentarisch die Vernichtung seines schriftstellerischen Nachlasses an. Sein letzter Wille wurde nicht ausgeführt.

Spagat Kunst und Leben

nmz: Ives hat 1918 aufgehört zu komponieren.

Metzger: Ja, er hat nach einem fast tödlich verlaufenen Herzinfarkt nicht mehr komponiert. Ich könnte mir vorstellen, dass diese physische, gesundheitliche Katastrophe zusammenhing mit der Spannung zwischen seinem profanen Beruf als Versicherungskaufmann und seiner Freiheit als Komponist in einem heroisch erkauften Freiraum. Das war nicht so ganz unproblematisch. Und wie unglücklich Kafka war, wissen wir. Kafka hat freilich eine andere Krankheit entwickelt, eine Lungenkrankheit. Ich habe den Eindruck, beide haben dieses Kunststück, diesen Spagat zwischen Kunst und Leben mit ihrer Gesundheit bezahlt. Wobei das Leben die berufsmäßig betriebene Absicherung von Risiken zum Nutzen der jeweiligen Versicherungsfirma war, nicht die Freizeit, denn die wurde als Freiraum für die Kunst beansprucht.

nmz: Autonomie der Kunst, welch stolzes Wort. Sie verwerfen sie. Autonomie sei eine Kraft, die im Werk selber liege. Eine kühne These.

Metzger: Damit ist die Autonomie gerade nicht verworfen, sondern als objektives technisches Moment des Produktionsprozesses von Kunstgebilden begriffen. Ich wollte einfach diesen umstrittenen Autonomiebegriff einmal anders aufhängen. Mich verdrießen seit Jahrzehnten die Debatten darüber, ob Kunst um ihrer selbst willen, l’art pour l’art, statthaft oder wenigstens möglich und nicht vielmehr eine Illusion sei, die sich naive Ästheten machen mögen, weil sie die soziale Bedingtheit und Ableitbarkeit allen menschlichen Trachtens und Tuns nicht durchschauen. Diese Debatten ertrage ich nicht mehr.

nmz: Wie anders hängen Sie den Begriff auf?

Metzger: Ich habe mich des Buches „Das Unbekannte in der Kunst“ von Willi Baumeister erinnert, auch der Entstehungsgeschichte des Buches, das ein antifaschistisches Dokument ist, ein ganz besonders pointiertes.

nmz: Inwiefern antifaschistisch?

Metzger: Die Nazis wollten Baumeister, wie alle „entarteten Künstler“, durch das berüchtigte Malverbot vernichten. Dessen Einhaltung wurde immer schikanöser kontrolliert; während der letzten Kriegsjahre ging die Gestapo in Baumeisters Atelier und Domizil buchstäblich ein und aus. Immer kleinere Formate der Gemälde, schließlich nur noch zeichnerische Miniaturen boten keine Gewähr der Versteckbarkeit mehr. So schlug am Ende Baumeisters Widerstand in die Schriftform um.

nmz: Sie haben Willi Baumeister gekannt?

Metzger: Ja. Ich habe Anfang der 50er-Jahre eine Zeit lang in seiner Malklasse an der Stuttgarter Kunstakademie hospitiert.

Das Unbekannte

nmz: Das Buch kennt den Begriff Autonomie gar nicht.

Metzger: Nein, Baumeister verwendet den des Unbekannten. Das Kernstück seiner Theorie des Unbekannten ist: Der Künstler hat eine Vision, die er realisieren will, und wenn er über ausreichendes Können und die entsprechenden technischen Mittel verfügt, dann gelingt ihm das auch. Aber das Ziel, das er sich vornimmt, kann nur ein bekanntes sein. Zumindest ihm ist es bekannt, denn sonst könnte er es sich nicht vornehmen. Wenn es ihm nun gelingt, zu verwirklichen, was er wollte, dann hat er eine epigonale Meisterleistung vollbracht, im günstigsten Fall als Epigone seiner selbst, als Epigone seiner künstlerischen Absicht. Beim originalen Künstler treten hingegen Phänomene auf, die sich seinem Willen entziehen: Eigenkräfte seiner Arbeit.
Das ist die besondere Pointe: Originalität nicht als Eigenschaft des Genies und seiner Genieblitze, die anderen versagt bleiben, sondern seiner Arbeit, die ihm entgleitet und dadurch entgleist, sozusagen autonom wird.

nmz: Sein künstlerisches Ziel mutierte nachträglich zu einer Art Scheinziel?

Metzger: Ja, zu einem vermeintlichen Ziel. Die Arbeit endet im Unbekannten, bei etwas, was der Künstler vorher nicht wusste, was niemand wusste, geschweige die Menschheit. Ein originales Kunstwerk erschließt einen Bereich, der, als die Arbeit daran begann, noch nicht zum verfügbaren Wissen gehört hat, ja nicht einmal zu dem, was sich irgendjemand vorstellte oder vorstellen konnte.

nmz: Es ist vom Künstler selbst nicht analysierbar?

Metzger: Nachträglich schon, aber nicht vorher. Allein dadurch kommen aber wirkliche Innovationen zustande und so etwas wie ein geschichtlicher Prozess. Andernfalls wäre die ewige Repetition des Bekannten das Schicksal der Kunstproduktion, so wie ja wohl die meisten Tiere das ihnen Bekannte reproduzieren. Diese Beharrung, die unendlich viele Zeit und unendlich große Anzahl von Generationen, die eine Veränderung in der Tier-und Pflanzenwelt benötigt, machen Naturgeschichte so langsam. Aber manchmal geht’s auch schnell, bei sprunghaften Mutationen; die gemahnen dann schon wieder ans Baumeistersche Unbekannte. Auf ihnen beruht die Evolution.

nmz: Das Unbekannte – das wäre aber im Nachgang festzumachen am Werk.

Metzger: Im Nachgang ja, denn da ist das Unbekannte ja dann bekannt geworden.
Autonomie ist nur dann kein leerer Wahn, wenn sich im Entstehungsvorgang des Kunstwerks, im produktiven Vorgang selber eigene Tendenzen anmelden und durchsetzen, die unabhängig von der Meinung oder Gesinnung des Künstlers ihm und der Welt etwas zuvor Unbekanntes bekanntmachen. Da mag der Künstler vermeinen, mit seinem Werk lobe er Gott oder liefere dem Kampf für eine gute Sache Waffen oder bessere gar den Menschen; in Wirklichkeit macht er Kunst.

nmz: Luigi Nono war ein Künstler mit politischer Intention. Intentionslosigkeit, wie sie heute zum guten Ton gehört, lag ihm fern. Gleichwohl, alle seine Werke sind autonome Werke und ein Ganzteil ist autonom im Baumeisterschen Sinn. Das darf man wohl sagen. Oder?

Metzger: Ja, von Anbeginn. 1950 setzte sich in „Polifonica – Monodia – Ritmica“ mit unabsehbaren Folgen für die abendländische Musikgeschichte die Eigenbedeutung des einzelnen Tons, des einzelnen Geräuschs gegen den geplanten rhetorischen Zusammenhang durch. Aber dann kam der Werkkomplex zum Gedächtnis Federico García Lorcas. Nono suchte darin offenbar nach einer Tonsprache, welche die Mehrheit verstehen sollte. Welche Mehrheit eigentlich? Die Mehrheit der Europäer? Das auf unserem Kontinent seit vielleicht 250 Jahren mehrheitsfähige „natürliche“ Tonsystem, ein höchst künstliches Produkt, hat sich zwar inzwischen auf der ganzen Welt verbreitet. Aber das ist ein Ergebnis des Imperialismus. Die tonale Tonsprache, die als besonders massenverständlich gilt, ist den Massen des europäischen Kulturkreises aufgezwungen und dann imperialistisch exportiert worden. Die Asiaten hatten andere Tonsysteme, andere Skalen, andere Begriffe des musikalischen Zusammenhangs. Die Afrikaner auch. Ich bin damals vorübergehend an Nono irregeworden.

Struktureller Schmerz

nmz: Welches Werk Nonos hat Sie dann wieder überzeugt?

Metzger: Spätestens „Il Canto sospeso“, diese extreme, ungeheuerliche Kantate auf Texte hingerichteter Widerstandskämpfer. Die unerbittliche Konsequenz der streng seriellen Konstruktion wird hier zur unvorhergesehenen Chiffre dessen, was ich einmal „strukturellen Schmerz“ genannt habe.

nmz: Und der späte Nono?

Metzger: In den letzten Werken hat Nono alle Panzerungen abgeworfen, die ihm einst Halt gaben, und sich in souveräner Ungeschütztheit dem Einbruch des Unbekannten geöffnet. Gerade ein so geradlinig und konsequent arbeitender Komponist, wie Nono es war, konnte sich diese Öffnung leisten.

nmz: Welche autonomen Tendenzen manifestieren späte Nono-Werke?

Metzger: Dass im Streichquartett „Fragmente – Stille. An Diotima“ die Ausführenden stumm, fürs Publikum unhörbar, Hölderlinsche Verse lesen, um damit die Dauer von Pausen qualitativ zu mensurieren, statt sie metronomisch auszuzählen oder chronometrisch zu stoppen, nenne ich nur als Beispiel für den totalen Umsturz des Verhältnisses zwischen Innen und Außen, zwischen Erscheinung und Wesen, zwischen Spieler und Partitur, zwischen Musik und Welt. Und eine alle musikalischen wie theatralischen Gattungen sprengende Komposition ist Nonos „Prometeo“, dessen Untertitel „Tragödie des Hörens“ lautet. Es sind Werke, die wirklich so unter kaum einem ihrer Aspekte hätten geplant werden können. In ihnen hat sich die Autonomie der Kunst gegen die Beschränktheit des Künstlers durchgesetzt – eines Künstlers, wohlgemerkt, dessen Horizont am Ende schier grenzenlos war.

nmz: Die Autonomiefeindschaft, die sich heute allerorten regt, sei eine politische Gewalt. Wie ist dieser Satz von Ihnen zu verstehen?

Metzger: Ich zitierte am Schluss meines Vortrags einen Satz des Schweizer Filmemachers Mathias Knauer: „Der globale Marktfaschismus duldet kein Asylland mehr für die Künste.“ Ich hätte die Hölderlin’sche Verszeile hinzufügen können: „Ach! der Menge gefällt, was auf den Marktplatz taugt.“

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