1972 – vor 50 Jahren – gründete Günter Graulich zusammen mit seiner Frau Waltraud in Stuttgart den Carus-Verlag. Anfang der 2000er Jahre übernahm Sohn Johannes die Geschäfte; er baute das Unternehmen weiter aus und machte es zu einem der größten Anbieter im Bereich Vokalmusik. Zum Firmenjubiläum, das am 3. Juni auch mit einem Festkonzert in der Stuttgarter Musikhochschule gefeiert wird, sprach die nmz mit Johannes Graulich über den Verlag, der schon vielen Krisen getrotzt hat und von der Corona-Pandemie besonders hart getroffen wurde.
neue musikzeitung: Wann und in welcher Situation haben Sie damals die Carus-Geschäftsführung übernommen?
Johannes Graulich: Die Frage kam kurz vor den 2000er Jahren während meiner Facharztausbildung zum Kinderarzt an der Charité in Berlin auf. Damals war ich neben der Medizin auch wissenschaftlich tätig und bereits lange genug im Beruf, so dass ich mir erstmals auch wieder ein Leben außerhalb der Medizin vorstellen konnte. Zudem besaß ich die naive Vorstellung, dass ich die Felder Kinderheilkunde und Verlag parallel verwirklichen werden könnte. Mein Vater war damals Anfang siebzig und es war klar, dass es entweder eine Lösung innerhalb der Familie gibt oder der Verlag verkauft werden müsste. Neben dem Medizinstudium hatte ich eine private Gesangsausbildung absolviert, war in Berlin in der Chormusik aktiv und durch meine private Biografie chorisch gut vernetzt und so reizte mich diese Aufgabe.
nmz: Verlief die Übergabe der Geschäfte vom Vater auf den Sohn konfliktfrei oder gab es Reibereien?
Graulich: Man kann es als eine gelungene Übergabe bezeichnen. Jedoch prallten bei manchen Themen auch unterschiedliche Meinungen aufeinander – wobei wir uns in der Grundausrichtung des Verlags immer sehr einig waren. Doch über die Wege dahin waren wir teils tatsächlich sehr verschiedener Auffassung, sodass es darüber auch Auseinandersetzungen gab. Zum damaligen Zeitpunkt war der Carus-Verlag sehr stark auf meinen Vater, den Verlagsgründer, zugeschnitten.
nmz: Sie haben den Verlag auf Wachstumskurs gebracht. Mit welchen Widerständen haben Sie dabei kämpfen müssen?
Graulich: Der Verlag hatte damals 20 Mitarbeiter – heute sind es 50 –, sodass sich das Unternehmen von seiner Denk- und Arbeitsweise verändern musste, um dieses Wachstum überhaupt zu ermöglichen. Darüber gab es viele Diskussionen. Aber es war im Rahmen dessen, wie es bei anderen Unternehmens-Übergaben genauso geschieht. Mein Vater ist ein echter Machertyp, ein Gründer, wie er im Buche steht. Er hat den Verlag mit meiner Mutter aus dem Nichts heraus aufgebaut. Das Loslassen ist im natürlich nicht leicht gefallen. Wenn es inhaltlich zum Schwur kam, standen mein Vater und ich immer auf der gleichen Seite. Denn meine Eltern und ich hatten immer den Wunsch, dass man die Übergabe optimal für Carus und einvernehmlich gestaltet, und so haben wir eben teilweise lange diskutiert, um dies zu erreichen.
Kerngebiet Chormusik
nmz: Mit Noten für Chorwerke fing alles an, längst haben Sie das Portfolio um Bücher, CDs und digitale Angebote erweitert. Sind die Chor-Editionen trotzdem noch das Standbein von Carus?
Graulich: Im Grunde haben wir das Verlagsthema, die Chormusik, unser Kerngebiet, in den letzten 20 Jahren konsequent weiter ausgebaut. Wir sind einfach sehr erfolgreich im Chorbereich. Denn die Kunden suchen Chormusik erst einmal bei Carus. Anschließend schauen sie bei anderen Verlagen. Das ist schon ein enormes Pfund, mit dem wir wuchern können. Und Notenedition heißt bei uns heute gedruckte und digitale Musikalie und Übungsmaterial für Chormusik. Der wirtschaftliche Erfolg beruht auf den Noteneditionen für Chöre. Jetzt kam natürlich Corona. Da ist unser Schwerpunkt bei der Vokalmusik besonders hart getroffen worden.
nmz: Der Carus-Katalog ist riesig, Noten, mp3-Dateien und Zusatzmaterialien bieten Sie auch als digitale Download-Produkte an. Entwickelt sich Carus immer mehr zu einem „Service Provider“?
Graulich: Unser Katalog mit 45.000 Editionen ist tatsächlich unvergleichbar. Einen Verlag mit einem derart breiten Programm gibt es auch nicht in anderen Ländern. Für uns war klar, dass Kunden heute einen umfassenderen Service von Verlagen erwarten. Dazu gehörten auch Schnelligkeit und das Mitdenken von digitalen Produkten. Stellen Sie sich eine geplante Aufführung in Neuseeland vor und der Dirigent bemerkt kurzfristig vor Ort, dass beim Versenden die zweite Oboenstimme verloren gegangen ist. Wie soll er da übers Wochenende einen strengen Probenplan ohne die passenden Noten bewerkstelligen? Natürlich mussten wir angesichts solcher Herausforderungen in der globalisierten Musikwelt digitalisieren, um die Dienstleistungen auf den Stand der Zeit zu bringen. Wir leben schließlich vom Konzertgeschehen. Da sind die Themen Schnelligkeit und Digitalisierung überlebenswichtig – und dieser Herausforderung haben wir uns gestellt.
nmz: Die Digitalisierung ersetzt aber nicht die persönliche Kundenberatung, oder?
Graulich: Wir haben ein Kundenservice-Team, von dem viele langjährige Mitarbeiter auch selbst kirchenmusikalisch tätig sind. Da sitzen somit Leute, die sich auskennen und sowohl unseren Katalog als auch die Praxis kennen. Die Geschäftszeiten sind aber immer noch an unsere Zeitzone gebunden, das heißt, ein amerikanischer Chorleiter kann, wenn bei ihm Mittag ist, bei uns niemanden mehr erreichen. Doch sie benutzen zum Teil unsere Website auch virtuoser, als das bei uns hier zu erwarten ist. In vielen Ländern ist die Digitalisierung schon weiter als in Deutschland.
nmz: Wie rechnen sich die Carus-Chor-Editionen vor allem der eher unpopulären Werke, die kaum je von Chorensembles aufgeführt werden?
Graulich: Man muss ehrlicherweise sagen, dass ein guter Teil unseres Katalogs aus rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten kaum verkäuflich ist. Viele unserer Projekte erwirtschaften nicht das, was wir in sie investieren. Das liegt an unserem Anspruch, dass wir beispielsweise auch die Kantaten von Bach mit den „entlegenen“ Texten, der „wilden“ Besetzung oder dem extrem hohen Schwierigkeitsgrad vorhalten, für die sonst üblicherweise kein Aufführungsmaterial bereitgestellt wird , da sie höchstens ein oder zwei Mal im Jahr aufgeführt werden, wenn überhaupt. Und dann gibt es Ausgaben, die enorm nachgefragt sind. Diese Mischung ist aber im Grunde auch das, was die Kunden an uns mögen; denn unter dem Strich ist es doch so: Schütz, Bach, Mozart, Haydn, Mendelssohn, Brahms, Rheinberger – da brauche ich als Kunde gar nicht drüber nachzudenken, weil klar ist: das bekomme ich bei Carus.
nmz: Können Sie uns ein Rechenbeispiel für Ihre Mischkalkulation geben?
Graulich: Das verhält sich wohl bei allen Verlagen gleich: 20 Prozent der Ausgaben müssen für 80 Prozent der Umsätze aufkommen. Das besagt die 80/20 Regel. Das ist auch für andere Branchen ein ungeschriebenes Gesetz und so läuft es ebenfalls bei uns. Bei Carus muss immer die Gesamtkalkulation stimmen. Wir müssen unsere Gehälter bezahlen, unsere Lieferanten und Autoren und Autorinnen honorieren und das Ganze muss sich in den schwarzen Zahlen bewegen. Das ist es, was wichtig ist.
nmz: Wie haben Sie als Verlag auf die schwierige Corona-Zeit reagiert?
Graulich: Wir bereiten zum Beispiel das „Chorbuch a tre“, ein Chorbuch mit dreistimmigen Chorsätzen für das aktuelle Programm vor. Denn wir haben uns gesagt, dass die Chöre nun erst wieder ihre Arbeit aufbauen müssen, bevor etwa die A-cappella-Stücke wieder so klingen, wie man sie hören möchte. Im Hinblick auf Intonation brauchen viele Chöre jetzt noch Unterstützung vom Klavier und wir bieten somit zu allen Sätzen immer eine Klavierbegleitung an. Dies ist in einer Situation wie der jetzigen wichtig, in der die Chöre wieder auf das Niveau kommen müssen, welches sie vor Corona hatten. Und somit versuchen wir immer aktuell zu reagieren und passendes Repertoire zur Verfügung zu stellen, etwa mit Bearbeitungen von großen Werken, Oratorien für kleinere Besetzungen, die gerade jetzt gefragt sind.
Nach der Pandemie
nmz: Gesetzt den Fall, dass wir Corona bald einigermaßen in den Griff bekommen: Was sind Ihrer Meinung nach dann die wichtigen „Aufräum-Arbeiten“ in Sachen Singen und Musik?
Graulich: Die große gesellschaftliche Aufgabe nach der Pandemie ist für mich, dass die Kinder wieder ins Musizieren hineinkommen. Traurige Tatsache ist, dass viele Kinder- und Jugendchöre durch die Pandemie im Grunde nicht mehr existent sind. Diese Chöre haben in der Regel eine sehr hohe Fluktuation und wenn zwei Jahre fast nichts mehr stattfindet, gibt es auch keine neuen Mitglieder und andere sind mittlerweile beim Studieren oder ganz woanders. Denken Sie zum Beispiel an einen Knabenchor, da fangen Sie nach einer zweijährigen Unterbrechung fast bei null wieder an. Dies bestätigen mir leider auch viele Schulmusiker und Schulmusikerinnen, die bei ihren Schulchören und -orchestern wieder von vorn anfangen müssen. Das ist meiner Meinung nach nun die Aufgabe, die wir als Verlag, aber auch gesellschaftlich haben: Wir müssen die Kinder wieder weg bekommen vom Handy, hin zum echten Erleben.
nmz: Die letzten beiden Jahre wurden von Corona dominiert, nun herrscht Krieg mitten in Europa – von der Klimakrise ganz zu schweigen. Wird es mit der Kultur weiter den Bach runtergehen?
Graulich: Ich glaube, dass es für uns alle in den nächsten Jahren wichtig sein wird, dass wir unsere eigenen gesundheitlichen Reserven, die Resilienz, aufbauen, damit es uns gut geht. Ich kenne so viele Chorsängerinnen und Chorsänger, die sagen, dass das Singen für sie eine sehr wichtige Betätigung ist, die ihnen gut tut. Und das wird sicherlich für unsere Gesellschaft in den nächsten Jahren nicht an Bedeutung verlieren. Insofern würde ich mir wünschen, dass wieder viele Menschen aktiv musizieren. Ich möchte das gar nicht auf das Singen reduzieren. Es ist auch toll, wenn jemand in einem Orchester spielt, Kammermusik macht oder Lieder mit einem Pianisten erarbeitet. Ich glaube, dass wir den künstlerischen und damit wirtschaftlich weniger produktiven Bereich unbedingt fördern müssen, damit wir gewappnet sind für die schwierigen Themen, die auf uns warten.
nmz: Wie hat der Carus-Verlag Krisenzeiten in der Vergangenheit bewältigt?
Graulich: Ich habe vor einiger Zeit untersucht, wie unsere eigenen Geschäftszyklen sich in eher schwache und starke Jahre unterteilen: Diese sind interessanterweise gar nicht den allgemeinen Wirtschaftszyklen gefolgt. Ich bekam eher den Eindruck, dass die Leute in den Zeiten der Rezession mehr musiziert haben. Und wenn es überall „brummt“ und alle unentwegt arbeiten, da hat keiner mehr Zeit, auch Dinge zu tun, die die Kreativität fördern. Aber das ist ein bisschen Kaffeesatzleserei (lacht). Ich weiß nicht, ob man das so verallgemeinern kann. Aber meine persönliche Hoffnung ist, dass die Menschen Beschäftigungen finden, die sie seelisch nähren und da, glaube ich, kann das Singen ziemlich weit oben stehen.