Ursprünglich verabredete sich Oliver Fraenzke mit Anne Sophie Mutter zu einem Interview für die neue musikzeitung über den „Tag des Streichquartetts“, der 2020 unter Schirmherrschaft der Künstlerin stand. Das Gespräch entwickelte eine Eigendynamik und man unterhielt sich weit über den aktuellen Anlass und die aktuelle Situation des Kulturlebens hinaus über das Alter und die Wahrnehmung eines Gegenübers, beim Musizieren wie im alltäglichen Leben. Lesen Sie daher Teil I des Interviews mit Anne Sophie Mutter in der aktuellen nmz, Teil Il folgt dann auf den Seiten des Bayerischen Tonkünstlerverbands in der Dezemberausgabe.
neue musikzeitung: Die herrschende Situation bedingt durch die Corona-Pandemie betrifft uns alle und gerade Sie als international konzertierende Künstlerin sind durch diverse Absagen geplagt wie auch durch die Unsicherheit, ob und wie geplante Projekte stattfinden. Wie empfinden Sie die aktuelle Lage?
Anne-Sophie Mutter: Ich wünschte, die Politik würde gezielter auf die Bespielbarkeit von Konzerträumen eingehen und besonders auf deren unterschiedliche Volumina, anstatt undifferenziert mit Zahlen um sich zu werfen, die keinen Bezug zur Realität haben. Von Seiten der Politik brauchen wir mehr Interesse an der Kunst und Kultur und damit einhergehend Überlegungen, die ein Konzertieren nicht nur sicher, sondern überhaupt durchführbar machen. Man kann nicht von Öffnung sprechen, wenn ein Veranstalter den Saal gar nicht erst anbieten kann, weil man mit der geringen Anzahl erlaubter Zuhörer kaum die Unkosten erwirtschaftet. Ich halte dieses Verhalten nicht nur für lieblos, sondern auch für respektlos – wir sind nach wie vor nicht systemrelevant! Hier hat sich sehr viel zu ändern, gerade weil wir mit einer zweiten Welle rechnen sollten und es zwischen on und off etwas geben muss. Für fast alle Musiker handelt es sich um ein Desaster, da man nicht ein Jahr ohne Einnahmen überleben kann. Wir müssen unter Gewährleistung aller Sicherheitsmaßnahmen kreativer und individueller über die Möglichkeiten des Auftritts nachdenken. Denn das ist die einzige Möglichkeit, die Zuhörer – die ganz offensichtlich die Musik sehr vermissen – wieder zu erreichen und so viele Solo-Selbstständige wie möglich vor dem absoluten Aus zu bewahren.
Mehr Intensität im Raum
nmz: Sie sprechen die Zuhörer an: Haben Sie bei Ihren letzten Konzerten, die nun nach einer auch für Sie monatelangen Pause kurz vor unserem Gespräch stattfinden konnten, einen Unterschied in der Mentalität entdeckt? Gehen die Leute mit einer anderen Einstellung ins Konzert und nehmen die Musik möglicherweise sogar anders wahr?
Mutter: In der aktuellen Situation kann davon ausgegangen werden, dass die Zuhörer nicht ins Konzert gehen, weil sie das Abonnement abgeschlossen haben (was auch überhaupt nicht schlimm ist: Wir sind alle sehr froh darüber, dass es noch immer Leute gibt, die sich langfristig für ein Programm entscheiden), sondern, weil sie die Musik erleben wollen. Ich würde behaupten, dass mehr Intensität im Saal spürbar ist. Auch die Stille beim Konzert verändert das gesamte Erlebnis – man traut sich heutzutage im öffentlichen Raum ja kein Räuspern mehr. Das führt dazu, dass ein Musizieren auf intimste Weise wie ganz selbstverständlich möglich wird. Ich halte das tatsächlich für einen der wenigen positiven Nebeneffekte der Pandemie: Vielleicht hören wir alle einfach genauer hin, weil wir nicht mehr so oft die Gelegenheit haben, bei einem Live-Erlebnis dabei sein zu können oder dürfen. Das wäre natürlich ein großes Geschenk und ich hoffe, dass diese Intensität bleibt.
nmz: Gerade die Kammermusik hat dadurch gewonnen, da es nun mehr Konzerte in diesem Bereich gibt.
Mutter: Genau! Weil wir weniger auf der Bühne sind und es in der Pandemie mit all den Tests und Einschränkungen einfach überschaubarer zu sein scheint. Hier wird ein Repertoire mehr in den Fokus gerückt, was von dem riesigen, wunderbar-lauttönenden und oftmals beeindruckenden symphonischen Repertoire an die Seite gedrängt wird. Und man stellt doch immer wieder mit Überraschung fest, was so ein paar Streichinstrumente nicht an wunderbaren Klängen hervorzaubern können. Wir lernen andere Werke kennen: Ich glaube, für ein Publikum, das sich für Musik interessiert, ist dies eine einmalige Chance, ab von den Trampelpfaden wieder einmal altes Neuland oder neues Altbekanntes zu erfahren. Mit geringer Besetzung ist die Kammermusik ein hoch komplexer Mechanismus, der zwar ein gutes Stück symphonischen Charakter in sich trägt, dann aber wiederum sehr viel persönlicher ist, weil es eben nur diese wenigen Musiker sind.
Schirmherrin und Stifterin
nmz: Sie haben es sich ja bereits früh zur Aufgabe gemacht, nicht nur mit der eigenen Musik-Darbietung Türen wie Herzen zu öffnen, sondern auch aktiv als Protektorin einzutreten. Zunächst als Förderin von musikalisch Hochbegabten, später als kultur-politische Aktivistin und Schirmherrin. Als Sie 1997 den „Freundeskreis der Anne-Sophie Mutter Stiftung“ zur Förderung von Nachwuchstalenten gründeten, gehörten Sie eben noch der jungen Generation an, die Sie parallel unterstützten – wenn auch ausgestattet mit bereits über 20 Jahren Bühnenerfahrung.
Mutter: Es geht noch weiter zurück: Die Rudolf Eberle-Stiftung gründete ich bereits in den 80er-Jahren, weil ich schon da junge Kollegen fördern wollte. Zu dem Zeitpunkt war ich selbst erst Anfang 20. Diese Stiftung ist leider nur in Baden-Württemberg tätig und da herrschte bald die räumliche Distanz, weil ich kurz darauf nach München gezogen bin. Mich hat es sehr gewurmt, dass diese Stiftung nie das erreicht hat, was ich mir gewünscht hatte, nämlich weltweit aufstrebende Streicher fördern zu können. Deswegen war es mir so wichtig, bald den Freundeskreis und die Anne-Sophie-Mutter-Stiftung zu gründen.
nmz: Wie nehmen Sie es rückblickend wahr, so früh als „Wunderkind“ entdeckt worden zu sein? Was halten Sie von diesem scheinbar ewigen Wettstreit, möglichst jung möglichst viel geschafft und erreicht zu haben?
Mutter: Im Sport wie in der Musik ist es glaube ich nichts Unübliches, bereits als Kind entdeckt zu werden. Dann ist natürlich immer die Frage, inwieweit man in der Lage ist, sich intellektuell, menschlich und allgemein weiterzuentwickeln. Eine Begabung ist kein Freibrief oder eine Garantie dafür, dass man Musik immer wieder neu entdeckt – vor allem bei Repertoire, das man schon jahrzehntelang spielt. Insofern ist es zwar ein großes Glück, jung als „begabt“ zu gelten – aber nicht jeder früh Begabte wird dann später auch ein reifer Musiker. Wie auch nicht jeder junge Tennisspieler gleich Roger Federer wird.
nmz: Laufen Sport und Musik da nicht antithetisch ab? Bei Sport baut man im Laufe des Älterwerdens an Reflexen, Energie und Geschicklichkeit ab, bei der Musik gewinnt man an Reife und Tiefgang hinzu, kann die gemachten Erfahrungen in die Darbietungen miteinbeziehen.
Mutter: Aus meiner Sicht wird der Mensch nicht automatisch reifer oder klüger – sondern es hängt mit Mühe zusammen und mit Reflexionsfähigkeit, also mit dem Wunsch, zu lernen und sich zu ändern. Es ist die Fähigkeit, sich einer konstruktiven Selbstkritik zu stellen. Älter heißt nicht besser und reifer, jung aber ebenfalls nicht. Die Zeit kann eine riesige Chance sein; also gilt es für Künstler, diese zu nutzen und in den vielen Jahrzehnten ihr Repertoire und ihr Spiel allgemein weiterzuentwickeln, sich also nicht zu wiederholen. Man kann technische Fähigkeiten, die im Alter abbauen beziehungsweise in den Hintergrund treten, ersetzen durch ein Verständnis für die Musik oder gar durch Empfindsamkeit. Als Mensch und zwangsläufig auch als Musiker muss man sich wandeln. Ich kann mir nicht vorstellen, als Künstler jahrzehntelang einer Formel nachzugehen, die einmal funktioniert hat, aber eben ein hohles Gebilde bleibt. Mir geht es darum, dass man sich und seine Überlegungen freudig in Frage stellt. Die glückhaften Momente auf der Bühne sollte man natürlich genießen, dennoch muss das Bewusstsein bleiben, dass das Leben gerade als Künstler einer Pilgerreise entspricht, das Ziel einer Wunschvorstellung: aber man folgt dieser gerne. Auf dem Weg nimmt man manche Mühen auf sich, entdeckt dann aber doch wirklich Großartiges.
nmz: In einem Fragebogen benannten Sie einst Ihre drei größten Idole als Mozart, Gandhi und Mutter Theresa. Wie beeinflussen diese drei Ihr Leben?
Mutter: Mozart ist der Inbegriff des Genies, der Lebensfreude und des dem Leben zugewandten Menschen, der aus welchen unergründbaren Tatsachen auch immer einen Zugang zu einem musikalischen Wortschatz innehatte, der uns bis heute berührt, aufregt und die Sonne ins Herz strahlen lässt. Gandhi dagegen versinnbildlicht den friedlichen Widerstand gegen Gewalt, gegen das Billige, Schlechte und Zerstörerische im Leben. Mutter Theresa macht für mich die Hinwendung zum Gegenüber aus, ihr Dienen für die Armen und Bedürftigen ist exemplarisch für das, was wir alle im Leben auch machen können. Man muss nicht barfuß durch die Wüste laufen, aber man sollte den Anderen wahrnehmen als einen Menschen, der die gleichen Wünsche und Ängste hat wie man selbst. Dieser Gedanke sollte einem doch öfter durch den Kopf gehen, damit man innehält, von hier den Bogen zurückspannt zur Musik: Es gibt nichts Schöneres, als zusammen zu musizieren; denn Musizieren ist das Leben im Kleinen, oder wenn man so will auch im Großen. Beim gemeinsamen Spielen höre ich zu und während ich höre, ändere ich meine eigene Aussage, weil ich vom Gegenüber lerne, seine Gedanken aufnehme und in meine Gedanken mit einfließen lasse. Während ich meine Stimme vortrage, nehme ich mein Umfeld wahr und lasse die Kommentare darauf zurückfließen; während dem Spielen ändert sich die eigene Wahrnehmung und somit auch die eigene Stimme. So wandelt sich auch die Haltung gegenüber dem eigenen Denken und Handeln, wodurch man fürs ganze Leben lernt. Gandhi und Mutter Theresa ging es genau darum, mit Geduld und Beharrlichkeit Empathie zu zeigen, den Anderen Respekt und Anteilnahme zu zollen und ihnen unbefangen und offenen Herzens entgegenzutreten – und sie wahrzunehmen.
Vom Glück in der Musik
nmz: Was Sie ansprechen, umfasst eine Vielzahl an Aspekten aus allen Bereichen der Existenz, die uns jeden Tag beschäftigen sollten. Und wie gilt dies nun konkret für Ihre Auftritte: Wenn Sie, wie bis letztes Jahr noch möglich, vor tausenden Menschen auf der Bühne stehen und alle gebündelt Sie wahrnehmen: Wie weit sind Sie dann noch bei sich und wie weit wenden Sie sich dem Publikum zu, sind in direkter Aktion mit dem Einzelnen oder Kollektiven?
Mutter: Um diese Frage zu beantworten, muss man beim Üben anfangen. Das für sich allein Proben ist ja an sich dröge und dient nur dem Ernstfall, dass man nämlich unbedingt in Dialog treten will zunächst mit den Kollegen, dass aus dieser einen Person ein großes Ganzes wird – ganz gleich ob im Quartett oder im großen Orchester, es muss immer miteinander verschmelzen. Und wenn man dort angedockt hat, dann reiht sich das Publikum ein in die entstehende Kommunikation, indem es da ist und zuhört. Wir spüren einander und wissen, dass wir in eben diesem Moment genau das Gleiche erleben; dadurch entsteht ein unbeschreiblich großartiges Gefühl. Dieses kann auch aufkommen, wenn man mit Freunden einen Sonnenuntergang anschaut oder eine Bergwanderung unternimmt oder in einer Gruppe vor einem ausdrucksstark-bewegenden Bild steht: bei all dem reagieren wir unterschiedlich und werden doch vom Gleichen gebannt. Und das macht das Leben als Musiker so spannend, wenngleich teilweise schwierig, weil man a) trotz bester Vorbereitung nicht immer dort hin findet, wohin man gearbeitet und wovon man innerlich geträumt hat und b) auch das Publikum gerade aus der Arbeit oder von sonst woher kommt und normale Probleme mit sich trägt, die es einfach noch nicht ablegen konnte. Dann ringt man gegenseitig, um zu diesem Punkt zu finden: „Beam me up, Scotty!“ Manchmal ist es nicht möglich, dass man sich zusammen irgendwohin beamt.
nmz: Manche Musiker haben ihr Leben lang mit der Interaktion zum Publikum zu ringen und kämpfen gegen das Lampenfieber, wie ist das bei Ihnen?
Mutter: Die Anspannung gehört auf jeden Fall dazu, vor allem das Warten auf den Zeitpunkt des Konzerts oder den Einsatz. Ob man nervös ist oder nicht, ist Veranlagungssache – und wenn das Lampenfieber kommt, ist es weder gut noch schlecht, dann ist es einfach so und man kann es nicht ändern. Das gehört aber mit zur Einmaligkeit, die jedes einzelne Konzert auszeichnet. ¢