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Aus der Masse ins Licht: Stefan Herheim über die Rolle des Chores in der Oper

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Stefan Herheim ist einer der renommiertesten Nachwuchs-Regisseure des Musiktheaters. In Salzburg machte der jetzt 39-Jährige bei den Festspielen 2003 mit seiner „Entführung aus dem Serail“ auf sich aufmerksam. Seit 2008 wird in Bayreuth seine Inszenierung des „Parsifal“ aufgeführt. An der Berliner Staatsoper setzte er in der letzten Spielzeit den „Lohengrin“ in Szene. Ein Gespräch mit dem in Berlin lebenden gebürtigen Norweger. [Aus „Oper & Tanz“ 5-09]

Oper & Tanz: Regietheater ist zurzeit ein viel besprochenes Thema. Es fordert den Solisten Dinge ab, die sie in ihrer Ausbildung nicht unbedingt gelernt haben. Das Gleiche gilt teilweise für den Chor. Welche Rolle spielt der Chor in Ihren Inszenierungen? Wie spielen Sie mit dem Chor auf der Szene?

Stefan Herheim: Zunächst arbeite ich grundsätzlich sehr gerne mit dem Chor. Allerdings hat jede Oper ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten, die es zu entdecken und zu theatralisieren gilt. Somit spielt auch der Opernchor je nach Werk, Stil und Epoche unterschiedlichste Rollen, wobei er natürlich am häufigsten als Repräsentant des Volkes zum Einsatz kommt. Und wie das Volk selbst setzt sich dieser große „Klang-Körper“ natürlich auch aus lauter Individuen zusammen, die eigenen Grundgesetzen folgen. Egal wie hetero- oder homogen man einen Chor szenisch einsetzt – falls man ihn überhaupt spielerisch auftreten lässt, ob exponiert oder reduziert: Er muss immer ein Träger von musiktheatralen Gedanken sein, die dem Werk eigen sind. Die inszenatorische Herausforderung liegt darin, alle Komponenten einer Aufführung in die Kette eines theatralen Ganzen konstruktiv einzugliedern.

Für mich und mein Team ist es deswegen immer wichtig gewesen, unsere Ideen und Gedanken zu einem Stück ausführlich mit dem ganzen Ensemble zu besprechen, einen Raum für gemeinsame Reflexion in der Probenarbeit zu öffnen und zu versuchen, in jedem einzelnen Fall eine Definition von Musiktheater neu zu finden. Dies liefert zwar keine Garantie dafür, dass man in und mit der Arbeit erfolgreich ist. Aber zunächst macht es deutlich, dass jeder gefragt ist und dass es bei einer substanziellen Vermittlung von Inhalten auf jeden ankommt. Als Regisseur kann man immer versuchen, die eigenen Ideen einfach durchzuboxen, aber ich finde es katastrophal, wenn man in der Aufführung merkt, dass die Regie vom Vermittler selbst nicht gefühlt, verstanden oder getragen ist. In solchen Fällen bekomme ich ein Gefühl für das, was so viele Leute heute unter dem viel diskutierten Begriff „Regietheater“ verstehen und was sie daran ablehnen, nämlich die Reduktion einer Aufführung auf wenige und theatral unerlöste konzeptionelle Ideen.

O&T: Muss das Kollektiv bei jeder Inszenierung wieder neu homogenisiert werden?

Herheim: In Bezug auf die Verinnerlichung einer Sichtweise sowie auf die oft notwendige Dynamisierung von eingespielten Routinen eines Chores: Ja. Was aber zum Beispiel auch dazu dienen kann, dass jedes Chormitglied sich aus der Masse ins Licht wagt, um dort seine individuelle Gestaltungskraft zur Schau zu stellen. Man geht ja selbst zu einer Neuproduktion in der Hoffnung, dass etwas Außergewöhnliches entstehen wird und spürt diese Erwartung auch von allen Beteiligten. Und wenn ich für eine Sache brenne, versuche ich das Vertrauen der Menschen zu gewinnen und ihren eigenen Brandherd zu schüren. Man sucht einen Konsens, der das Potenzial aller Beteiligten weitestgehend freisetzt und sie zu bewussten, engagierten Vermittlern eines Werks macht. Das ist es, was ich in diesem Zusammenhang unter einer Homogenisierung verstehe.

Der Berliner „Lohengrin“

O&T: An der Berliner Staatsoper haben Sie den „Lohengrin“ inszeniert. Nun ist ja ein Chor, auch der Chor der Staatsoper, ein Kollektiv, das schon seit vielen Jahren besteht, mit vielen verschiedenen Regisseuren gearbeitet hat und sehr offen war für die Zusammenarbeit mit Ihnen. Liegen die Schwierigkeiten der Homogenisierung wirklich darin, dass man den Kollektiven erst einmal den Geist für eine bestimmte Inszenierung einpflanzen muss? Oder geht es darum, dass dieses Kollektiv mit Gesetzmäßigkeiten von außen zu kämpfen hat, dass man als Regisseur erst einmal viel größere Probleme hat, diese äußeren Geschehnisse beiseite zu drängen, um sich auf den künstlerischen Prozess zu konzentrieren?

Herheim: Eine Probenarbeit ist eine sehr verletzbare Angelegenheit, die geschützt werden muss, oft auch vor der Institution, in der man arbeitet. Wenn das System hakt und der Arbeitsrahmen knirscht, macht sich das sehr schnell bemerkbar. Wenn sich Menschen in oder von dem Betrieb, in dem sie täglich arbeiten, belastet fühlen, sind sie natürlich weniger offen und schwieriger zu sensibilisieren für Probleme, die hier künstlerisch behandelt werden sollen. Das beschränkt sich nicht auf den Chor. Alle Mitwirkenden sind Bestandteil eines Größeren. Wenn der Geist eines Hauses aufgrund von infrastrukturellen, logistischen und zeitlichen Engpässen – die die Kunst oft in die letzte Reihe stellen – erstickt, dann hat man natürlich auch als Gast ein Riesenproblem.

O&T: Ist dies ein allgemeines Phänomen, das Sie an vielen Häusern beobachten? Kennen Sie oder gibt es neben dem „Lohengrin“ auch Beispiele für Opernhäuser, an denen es anders funktioniert?
Herheim: Eine Theaterleitung, die ein forderndes Regieteam für ein großes Stück engagiert, sollte den Spielplan, das Ensemble und die Kapazitäten des Hauses darauf abgestimmt haben, denn für das Gelingen eines Projekts ist die Kommunikation, Integration und Motivation der Menschen im ganzen Haus ausschlaggebend. Dieser Geist, der alle an einem Strang ziehen lässt, wächst langsam und braucht Kontinuität. Stuttgart unter Zehelein ist in dieser Hinsicht oft als exemplarisch hervorgehoben worden. Ich will diese Ära im Nachhinein nicht verklären, aber es scheint da innere, kollektive Absprachen gegeben zu haben, die zu einem spürbaren Konsens führten, der nach außen drang. Nicht ohne Grund war Stuttgart mehrfach „Haus des Jahres“.

O&T: Zurück zum Berliner „Lohengrin“: Da wurden wohl kritische Anmerkungen Ihrerseits aus dem Kontext gerissen, die nach außen hin dann nicht verständlich waren. Es gab in diesem Zusammenhang ein gewisses Bedauern des Chores, der sich missverstanden fühlte.

Herheim: Das habe ich innerhalb des Hauses zu klären versucht und habe mich auch beim Chor dafür entschuldigt, dass ich nicht erkannt habe, wie drastisch meine kritischen Aussagen im Rahmen eines polemischen Feuilletonismus, der ganz andere Ziele als die meinen verfolgte, ausfallen konnten. Eher wäre ich aus der Produktion ausgestiegen, bevor ich Kritik auf diese Art und Weise öffentlich geübt hätte. Zweifellos habe ich aber mit meinen Äußerungen die intern zu haltenden Probenintimitäten verletzt, was ich sehr bedauere. Denn so wurde es für alle schwer, zwischen angebrachter Kritik und journalistischer Eigenwilligkeit differenzieren zu können.

O&T: In Ihrer schriftlichen Stellungnahme kam der Chor allerdings nicht vor.

Herheim: Meine Stellungnahme habe ich an alle Mitarbeiter der Staatsoper adressiert, auch um deutlich zu machen, dass meine Kritik einer arbeitserschwerenden Haltung innerhalb der ganzen Institution galt. Im Übrigen war ein zentraler Inszenierungsansatz bei „Lohengrin“ das leidige Thema „Berliner Opernkrieg“ und seine Folgen für die Häuser und die Kunst. Bei Chorproben hatte ich oft dazu Stellung bezogen und mich sehr kritisch gegenüber der Gleichgültigkeit verhalten. Für mich war es ein großes Problem, dass der Chor an sich sehr zerrissen und geteilt aufgetreten ist: mir gegenüber, der Produktion gegenüber, dem Haus und sich selbst gegenüber. Es grenzte gelegentlich an einen Separatismus, der es immer schwieriger machte, den Chor als eine Gruppe anzusprechen und zu motivieren. Da wusste ich manchmal nicht mehr, womit ich zu tun hatte, denn ich wollte der im Stück behandelten Zwietracht als Spiegelung schwieriger Verhältnisse der Kunstschaffenden in Berlin zu einer spannenden Darstellung verhelfen, nicht diese real bekämpfen.

Bayreuther Erfahrungen

O&T: Wie war Ihre Erfahrung, als Sie in Bayreuth den „Parsifal“ inszeniert haben?

Herheim: Bayreuth ist ein Sonderfall und hat keinen herkömmlichen Institutionscharakter. Dorthin kommen außergewöhnlich engagierte Menschen von vielen Opernhäusern und aus aller Welt zusammen, um in Wagners Haus Wagner zu singen und zu spielen. Niemand kommt, um zu arbeiten im Sinne von „Geld verdienen“. Alle kommen in der Sommerpause, in der man sich eigentlich vom Geldverdienen erholt. Und alle nehmen in Kauf, dass die Arbeitsbedingungen weder zeitlich noch finanziell optimal sind, um durch eine große Anstrengung etwas auf den Punkt zu bringen, wie es im normalen Opernbetrieb kaum möglich ist. Also ganz im Sinne des Festspielgedankens Wagners. Eines hat man daher in Bayreuth nicht: Motivationsschwierigkeiten!

Opernchor-Ausbildung

O&T: Wie sehen Sie die Ausbildung in Deutschland, speziell für Opernchorsänger?

Herheim: Opernchorsänger-Ausbildung? Gibt es denn überhaupt so etwas in akademischer „Reinkultur“? Ich denke, das lässt sich schwer bewerkstelligen, denn jede höhere Stimm-Ausbildung verfolgt ja zunächst das Ziel, eine Stimme so zu kultivieren, dass sie die Welt erobert und nicht „nur für den Chor taugt“. Die Frage ist von daher wohl eher, wie man dafür sorgt, dass durch diesen allein in der Praxis erlernbaren Beruf eine große Erfüllung der künstlerischen Berufung, die ja alle Menschen in diesem Beruf mitbringen, kontinuierlich gewährleistet wird. Es gibt einen wunderbaren Ansatz, den Paul Curran, der neue Opernchef in Oslo, dort eingeführt hat. Wenn es zeitliche Kapazitäten gibt, wird die Zeit nicht einfach „frei“ gegeben, sondern mit internen Regie-Workshops für den Chor gefüllt, völlig losgelöst vom Repertoirebetrieb. Was bedeutet Gruppendynamik? Was bedeutet Personalität in der Gruppe? Was bedeuten kleine solistische Auftritte? Wie beeinflussen solche Aufgaben die sozialen Strukturen und die Atmosphäre im Chor? Über solche Fragen wird szenisch improvisiert – eine sowohl „gruppentherapeutische“ wie fortbildende Angelegenheit, bei der man spielerisch auch mit seiner Rolle in der Realität umgeht.

O&T: Das wäre ein Modell, übertragbar auch auf deutsche Häuser.

Herheim: Ich glaube, das lässt sich überall und auf jede Arbeitsgruppe übertragen.

Rosenkavalier in Stuttgart

O&T: Ihr nächstes Projekt ist der „Rosenkavalier“ in Stuttgart. Können Sie hier schon etwas zum szenischen Konzept sagen?
„Rosenkavalier“ in Stuttgart

Herheim: Im „Rosenkavalier“ ist viel von der Zeit die Rede. Es ist ebenso unmöglich sie festzubannen wie die Vergangenheit zu verklären, ohne dafür bestraft zu werden. Das gilt natürlich auch für die Opernrezeption im Allgemeinen, und ich möchte den Resignationsprozess der Feldmarschallin – die ja eine Opernikone sondergleichen ist – etwas sinnfälliger gestalten und motivieren als nur durch die Melancholie einer alternden Frau. In ihrer Rolle sehe ich ein mythisches Sinnbild für die entführte Europa und möchte vor allem anhand dieser Figur versuchen, eine Art europäische Kulturgeschichte aufzuzeigen, in der sich viele künstliche Maßnahmen zur Pflege und Unterdrückung von Trieb und Sehnsucht schillernd spiegeln.

Mir kommt jede Aufführung dieses Werks vor wie ein weiterer Versuch, das, was auf dem Zenit einer Epoche entstand und gewaltig einbrach, nachträglich künstlich wiederzubeleben. Aus heutiger Sicht scheinen Strauss und Hofmannsthal mit ihrer „Komödie für Musik“ aus dem Jahr 1910 mehr oder weniger unbewusst von einem Endzeitgefühl geleitet gewesen zu sein. Es ist, als ob sie diesen kunstvollen, empfindsamen Geist des Rokokos ein Stück weit heraufbeschworen hätten, um die Herzen ihrer Zeitgenossen zu beschwichtigen und davon abzuhalten, mit Europa in die Katastrophe hineinzugaloppieren.

Mit ihrem Versuch, sich zur mozartschen Gattung zu positionieren und die Popularität der historisierenden Oper zu festigen, schufen Hofmannsthal und Strauss (immerhin) etwas völlig Neues für ihre Zeit, nämlich die Konversationsoper. In diesem Zusammenhang sehe ich den Chor als eine Art Relikt der Gattung Oper ausgestellt, der zunächst als entrüstete Dienerschaft im Spiel ebenso kurz kommt, wie er sich dann aktiv in die intriganten Eskapaden der Protagonisten einbringt. Dabei gibt es auch viele kleinere Rollen, die mit Chormitgliedern besetzt sind.

O&T: Und der Chor freut sich auf die Produktion…

Herheim: Nun, das hoffe ich, denn wir brauchen ihn als Mitträger eines schillernden, mythischen Welttheaters!

O&T: Wenn Sie ein solches Inszenierungskonzept haben: Wird der Chor und/oder der Chordirektor einbezogen? Fragen Sie: Was ist möglich?

Herheim: Natürlich machen wir uns im Regieteam Gedanken darüber, wie die Darsteller singend und sich bewegend zurechtkommen und sich wohlfühlen können mit allem, was wir mit ihnen bewerkstelligen möchten. Beim „Rosenkavalier“ war es so – und das rechne ich dem Haus hoch an –, dass Gesine Völlm ihren Kostümentwurf nicht nur den Werkstätten vorlegte, sondern gleich auch dem Chor zeigen und erklären durfte. Denn es gab von allen Seiten Klärungsbedarf, zum Beispiel angesichts der Tatsache, dass acht Chorherren Satyre spielen sollen, die mit langen Schwänzen zwischen den Beinen auf hohen Plateauschuhen herumspringen und auf Türme klettern! In unserem frühen Gespräch mit dem Chor bekamen alle Gelegenheit, Bedenken zu äußern und alternative Lösungen für individuelle Probleme zu diskutieren. Und ich habe nie erlebt – weder von einem Chordirektor, der natürlich zunächst oft akustische Bedenken hat, noch vom Chor selbst – dass sich die Chorsänger nicht zumindest über die Gelegenheit freuen, sich nicht nur als Singende, sondern auch als Spielende in Szene zu setzen.

O&T: Ihre nächsten neuen Projekte sind „Tannhäuser“ in Oslo und „Lulu“ in Kopenhagen. Würden Sie auch wieder in Berlin inszenieren?

Herheim: Das mache ich im Jahre 2012, allerdings nicht an der Staatsoper, sondern an einem der beiden anderen Häuser…

O&T: Sie sagen also – trotz „Opernkrieg“ – nicht grundsätzlich: Nie wieder Berlin?

Herheim: Ganz im Gegenteil! Ich kenne aus eigener Erfahrung bis jetzt nur die Staatsoper. Und an sich hat sie mit ihrem Chor und Orchester die besten Voraussetzungen, ein Zentrum für neues, stilbildendes Musiktheater zu sein. Das grundsätzliche Problem in Berlin liegt ja nicht im Bereich des künstlerischen Potenzials, sondern auf einer politischen und künstlerischen Leitungsebene. Und ich finde es zum Heulen, wenn dieses Potenzial aufgrund von inkonsequenter Planung, politischer Inkompetenz und eitlen Kabalen in den oberen Etagen nicht freigesetzt werden kann.

Interview: Gerrit Wedel und Barbara Haack

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