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Berlin-Debüt für Simon Rattle

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Wenn an diesem Samstag Simon Rattle sein Debüt als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker gibt, beginnt für das Orchester die wohl größte Umwälzung in seiner 120-jährigen Geschichte. Schon seit Monaten stimmen sich die Musiker auf die neue Ära ein - und auf die Eventgesellschaft des 21. Jahrhunderts.


orf - Wie kaum ein anderer Maestro aus der internationalen Dirigenten-Elite steht der telegene Brite mit dem hellen Lockenkopf für die Öffnung des etwas angestaubten Klassikbetriebs hin zu einem neuen Publikum.
Der 1955 in Liverpool geborenen Rattle hat eher die Aura eines Popstars als die Ausstrahlung eines strengen Stabführers. Der Dirigent, der sich auf den Schultern seiner Vorgänger Arthur Nikisch, Wilhelm Furtwängler und Herbert von Karajan sieht, war 1999 von den Musikern aus einer illustren Kandidaten-Riege gewählt worden.
Damals entschieden sich die Philharmoniker für Rattle und gegen Daniel Barenboim, den Leiter der Berliner Staatsoper. Mit dem Briten wollte das Orchester nach 34 Karajan-Jahren und dem sich abzeichnenden Ende der Ära Abbado zu neuen künstlerischen Ufern aufbrechen. Jetzt ist es soweit.
In einer neuen Rattle-Biografie, die im Berliner Henschel Verlag erschien, sagt der Verfasser Nicholas Kenyon eine "permanente Revolution" an der Philharmonie voraus. Der Musiker selbst gibt sich etwas versöhnlicher. Er wolle "Leute mit offenen Ohren" anlocken, sagt Rattle, der immer wieder seine Liebe für Jazz und sein Faible für zeitgenössische Musik betont hat.
Dem City of Birmingham Symphony Orchestra verhalf er als Chefdirigent mit einer Mischung aus alter und neuer zum Sprung von der Provinz in die "Weltliga".
In Berlin will Rattle viel zeitgenössische Musik und Werke der vernachlässigten Franzosen aufführen. Die Klassiker Mozart und Beethoven kommen in den 44 Konzerten seiner ersten Spielzeit kaum vor.
Programmatisch erscheint auch das Eröffnungskonzert am Samstag: Neben Gustav Mahlers 5. Sinfonie wird Rattle "Asyla" dirigieren, ein Werk des jungen britischen Komponisten Thomas Adés, eine "Mischung aus Couperin und Techno-Musik".
Unter dem introvertierten Abbado hatten die Philharmoniker zwar immer wieder Herausragendes geleistet, doch der Italiener, der in seinen letzten Berliner Jahren von einem Krebsleiden gezeichnet war, mied so weit es ging die Öffentlichkeit.
Er liebte es kopflastig: Seine Konzert-Zyklen waren einem Komponisten, einem Schriftsteller oder einem Leitmotiv gewidmet. Nicht alle Abonnenten goutierten die intellektuell anspruchsvolle Programmgestaltung.
Das Orchester könne nicht mehr als "glamouröse Diva außerhalb stehen", beschrieb Rattle jüngst den Standort der Philharmoniker und meinte damit, dass sich die Vorzeigemusiker aus der einstigen Frontstadt West-Berlin nach Jahrzehnten üppiger öffentlicher Zuwendungen auf kleinere Brötchen einstellen müssten.
Der CD-Klassikmarkt ist ohnehin eingebrochen. In Berlin sind die Philharmoniker unter den etwa zehn ortsansässigen Profi-Klangkörpern zwar immer noch der Hahn im Subventionskorb, doch die finanzklamme Hauptstadt hat die Zuwendungen für die Philharmoniker auf jährlich 14,8 Millionen Euro bis 2005 gedeckelt.
Die Extras aus dem CD- Verkauf, die bisher über eine eigenständige Gesellschaft direkt in die Taschen der Musiker flossen, kommen jetzt in den Topf einer Stiftung, der Rattle vorsteht.
Mit diesem Modell hat der Intendant Franz Xaver Ohnesorg dem Orchester finanziellen Spielraum verschafft. Der umtriebige Manager, der zuletzt die Carnegie Hall in New York leitete, hat keine Berührungsängste mit Sponsoren - neben dem Logo der Philharmoniker prangt in der neuen Spielzeit das Emblem einer deutschen Großbank.
Rattle hatte seinen Wechsel nach Berlin von der Umwandlung des Orchesters in eine Stiftung und von der Erhöhung der Musikergehälter abhängig gemacht. Beides wurde ihm vom Senat zugestanden, die Abwanderung der Musiker auf Professoren-Posten gestoppt. "Man kann schneller Papst werden als Chef der Berliner Philharmoniker", beschrieb der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit das Tauziehen. Rattles erste Amtsperiode kommt päpstlichen Zeitmaßen ziemlich nahe: Sein Vertrag läuft zunächst bis zum Jahr 2012.