München - Lange galt der im niederbayerischen Straubing geborene Bariton Christian Gerhaher als Geheimtipp. Mittlerweile sind seine eher seltenen Auftritte wahre Publikumsrenner und werden von der Kritik gefeiert. Sein Auftritt bei den diesjährigen Münchner Opernfestspielen, wo er zusammen mit seinem langjährigen Klavierpartner Gerold Huber unter anderem Gustav Mahlers "Kindertotenlieder" interpretierte, wurde gar als "historisch" eingestuft.
Bei den Salzburger Festspielen sang Gerhaher in diesem Jahr zusammen mit dem polnischen Tenor Piotr Beczala und dem ungarischen Starpianisten András Schiff die Klavierfassung von Mahlers "Lieder von der Erde". Gerhaher sei ein "Meistersinger", der die vokalen Mittel "gleichsam mit der Apothekerwaage zu dosieren versteht", Partituren genau studiere und "mutig deren Extreme auslotet", schrieb die Wiener "Presse".
Vor fünf, sechs Jahren raunten sich Musikfreunde seinen Namen noch hinter vorgehaltener Hand zu. Mittlerweile hat die Karriere des promovierten Arztes und Vaters dreier Kinder kräftig Fahrt aufgenommen. Er gastiert in den Musikzentren der Welt, bei wichtigen Festivals und wird mit Preisen überhäuft. Kritiker vergleichen ihn mit dem legendären Liedsänger Dietrich Fischer-Dieskau.
Ständige Selbstzweifel
Ein Vergleich der etwas hinkt, zumindest was Gerhahers ganz eigenes Timbre anbelangt. Anders als Dieskau versteht es der 42-Jährige, seiner Stimme einen Charakter wie chinesisches Porzellan zu verleihen, filigran und zerbrechlich, aber auch schneidend scharf.
Gerhaher gilt als Intellektueller, als Grübler und Zweifler, dem es niemals um oberflächlichen Glanz, sondern um geistige Durchdringung und künstlerische Wahrhaftigkeit geht. "Ich zweifele ständig, auch an mir selbst", sagt der Künstler in seltener Offenheit. "Das ist schon so etwas wie eine institutionalisierte Krise."
Diese Haltung mag auch mit seiner fragilen Gesundheit zusammenhängen. Gerhaher leidet seit seiner Jugend an einer chronischen Erkrankung, die ihn zwingt, starke Medikamente einzunehmen. Jederzeit muss man damit rechnen, dass Gerhaher ein Konzert aus gesundheitlichen Gründen nicht geben kann. Vor seinem umjubelten Münchner Auftritt im Juli war hatte er neun Wochen lang nicht gesungen.
Private Gesangsstunden
Dass er über eine entwicklungsfähige Stimme verfügt, hat Gerhaher nach eigenem Zeugnis schon in der Schule in Straubing gemerkt. Zunächst wandte er sich in München jedoch, auch bedingt durch die eigene Krankheitserfahrung, dem Studium der Medizin zu. Ein Liederabend mit dem berühmten Bariton Hermann Prey 1988 in München ließ seine Leidenschaft für den Liedgesang entflammen. Er wandte sich an seinen besten Freund, den Pianisten Gerold Huber, mit dem ihn seither eine kongeniale Zusammenarbeit verbindet.
Parallel zum Studium nahm er private Gesangsstunden. "Ich habe gemerkt, dass das Singen zu mir passt", erinnert sich Gerhaher. "Denn das ist das eigentlich Beglückende am Singen: Wenn es einem gelingt, eine Idee, die geistig relativ greifbar ist, körperlich plausibel zu machen. Das ist fantastisch." Obwohl Gerhaher gute Lehrer hatte wie den Charaktertenor Paul Kuen und den Bariton Raimund Grumbach bezeichnet er sich zu einem nicht geringen Teil als Autodidakt. Ein Doppelstudium an der Münchner Musikhochschule, die ihn später als Professor verpflichtete, wurde ihm verwehrt.
Vor allem ein Liedsänger
Nach dem letzten Staatsexamen nahm Gerhaher für eineinhalb Jahre ein Engagement am Stadttheater Würzburg an. Dort kämpfte er sich durch die Niederungen des Repertoires, sang im "Zigeunerbaron", den Albert in Jules Massenets "Werther" und den Papageno in Wolfgang Amadeus Mozarts "Zauberflöte". Später brillierte er auch in anderen Opernrollen, zum Beispiel der des Wolfram von Eschenbach in Richard Wagners "Tannhäuser". In näherer Zukunft will er sich dem italienischen Repertoire zuwenden, beispielsweise der Rolle des Barbiers in Giacomo Rossinis "Der Barbier von Sevilla" oder den Marquis Posa in Giuseppe Verdis "Don Carlos".
Trotzdem sieht sich Gerhaher vor allem als Liedsänger. Auf diesem Feld gilt er längst als stilbildend. Sein Hauptaugenmerk gilt derzeit dem Liedschaffen von Robert Schumann, Franz Schubert und Gustav Mahler. Dabei haben seine Auftritte immer etwas existenziell Berührendes. "Ich finde, dass immer das Defizitäre das Interessantere ist", sagt Gerhaher. "Gefühle der Heiterkeit ziehen nicht unbedingt die Notwendigkeit nach sei, sie darzustellen."
Sieben Daten zu Gerhaher
- 1969: Gerhaher wird im niederbayerischen Straubing geboren.
- 1988: Aufnahme eines Philosophie-, später Medizinstudiums in München, parallel dazu private Gesangsstunden. Gerhaher hört ein Konzert des berühmten Baritons Hermann Prey, seine Liebe zum Liedgesang erwacht.
- 1998: Abschluss des Studiums, anschließend Promotion; Antritt einer Stelle als Sänger am Stadttheater Würzburg. Erste Solo-Debüts, unter anderem im Kammermusiksaal der New Yorker Carnegie Hall.
- 2006: Erster Auftritt bei den Salzburger Festspielen (Papageno in Mozarts "Zauberflöte").
- 2007: Umjubeltes Debüt als Wolfram in Richard Wagners "Tannhäuser" in Frankfurt am Main.
- 2009: Gerhaher erhält den Echo Klassik als "Sänger des Jahres".
- 2010: Die Zeitschrift "Opernwelt" kürt Gerhaher zum "Sänger des Jahres".