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Michael Gielen. Foto: Charlotte Oswald
Michael Gielen. Foto: Charlotte Oswald
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Der große Zeitgenosse

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Zum Tod des Dirigenten und Komponisten Michael Gielen
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Als Michael Gielen im Jahr 2005 unter dem Titel „Unbedingt Musik“ seine Erinnerungen veröffentlichte, konnte er mit einer gewissen Gelassenheit auf sein Leben und seine künstlerische Tätigkeit zurückblicken.

Entsprechend abgeklärt sortiert er die Stationen: von der Dresdner Kindheit, über die Jahre der Emigration in Buenos Aires, die Fortführung seiner musikalischen Laufbahn in Wien und die frühen dirigentischen Etappen, bis hin zur „Reifezeit“ an der Oper Frankfurt, in Cincinatti und beim SWF/SWR Sinfonieorchester. In durchweg kurzen und klaren, schnell auf den Punkt kommenden Sätzen erzählt er, oft mit Witz oder pointierter Schärfe. Das sind natürlich Attribute, die man sofort auch mit Gielens Einstellung zum Dirigieren in Verbindung bringen kann, als dessen oberstes Gebot er die „Deutlichkeit“ postulierte. Was er damit meinte, ist glücklicherweise in zahlreichen Einspielungen, vor allem aus der Baden-Badener SWR-Ära festgehalten, darunter Zyklen der Symphonien von Beethoven, Brahms, Bruckner und Mahler.

Der Orchesterklang hat hier durchweg etwas Offenes und Durchlässiges; Direktheit und Tiefenschärfe hat Vorrang gegenüber Homogenität, was eine Art gespannte Rauheit an der Oberfläche zur Folge hat. „Deutlichkeit“ meint aber vor allem auch eine durch entsprechende Temporelationen erzeugte Kenntlichmachung von formalen Zusammenhängen. Detailgenauigkeit und die gleichsam distanzierte Draufsicht auf das große Ganze bedingen einander. Geschult wurden diesen interpretatorischen Maximen durch die Aus­einandersetzung mit der zweiten Wiener Schule. Daraus – und aus der eigenen kompositorischen Tätigkeit – erwuchs Gielens unbestechliche Kompetenz für die zeitgenössische Musik. Epoche machende Uraufführungen, darunter als berühmteste die von Bernd Alois Zimmermanns „Soldaten“, aber auch der kontinuierliche Einsatz für das sich allmählich herausbildende Repertoire der Musik seit 1945 machten ihn zum idealen Chef des SWF Sinfonieorches­ters (1986–1999) .

In seiner Zeit als Operndirektor in Frankfurt (1977–1987) übertrug sich Gielens Ansatz in Zusammenarbeit mit dem Dramaturgen Klaus Zehelein und Regisseuren wie Ruth Berghaus und Hans Neuenfels auch auf die Bühne: Aus der klaren Absage an jede falsch verstandene Traditionspflege, der Wiederentdeckung von Komponisten wie Franz Schreker und der radikalen Neubefragung von Repertoirestücken erwuchs eine bis heute fortwirkende Erneuerung des Opernbetriebs.

Viel ist in dieser Zeitung aus berufenem Munde zu runden Geburtstagen und anlässlich der 2010 endlich erfolgten Auszeichnung mit dem Siemens-Musikpreis über Michael Gielen geschrieben worden. Erinnert sei hier nur noch an einen Meilenstein des Opernfilms, an dem Gielen als Dirigent mitwirkte: Schönbergs „Moses und Aron“ (Huillet/Straub 1974). Von den strapaziösen, aber beglückenden Aufnahmen in einer antiken Arena in den Abruzzen stammt das vielleicht denkwürdigste Foto Gielens: in Unterhose auf einem Podest sitzend, den Taktstock zwischen den Zähnen. Am 8. März ist Michael Gielen im Alter von 91 Jahren in Mondsee gestorben. jmk

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