Er war der dritte Mann bei der „West Side Story“ (1957), nach dem Komponisten Leonard Bernstein und dem Choreographen und Regisseur Jerome Robbins: der Songtexter Stephen Sondheim. Über ein Jahrzehnt später sollte der gebürtige New Yorker mit „Company“ 1970 das Musical als Texter und Komponist „erwachsen“ machen. Und damit zum wichtigsten Broadway-Komponisten der siebziger und achtziger Jahre aufsteigen. Am 26. November 2021 ist Stephen Sondheim im Alter von 91 Jahren gestorben. Drei Tage vor der Premiere von Steven Spielbergs Neuverfilmung der „West Side Story“ im New Yorker Lincoln Center.
Durch einen Zufall war Stephen Sondheim schon seit seinen Teenagertagen mit dem „Vater“ des modernen Broadway-Musicals bekannt, dem Texter Oscar Hammerstein II, der mit „Show Boat“ (1927) und „Oklahoma“ (1943) Musicalgeschichte geschrieben hat. Als der junge Stephen Sondheim im Alter von elf Jahren von Manhattan nach Doylestown, Pennsylvania umgezogen war, hatte er ihn kennengelernt, als Vater eines Freundes. Im Laufe der Zeit war Oscar Hammerstein II zu seinem Mentor und „Ersatzvater“ geworden. Als Produktionsassistent war er bereits im Alter von 17 Jahren dabei, als sein Mentor als Librettist und Texter von Richard Rodgers seinen künstlerischen Kampf führte mit dem sehr innovativen Musical „Allegro“. Kommerziell stand das Musical im Schatten von Burton Lanes und E. Y. Harburgs „Finian’s Rainbow“, dem großen Hit der Saison 1947. Der junge Sondheim hatte darauf mit seinem College-Musical „Phinneys Rainbow“ geantwortet. Kurze Zeit später war er auch zum Schüler des Avantgardekomponisten Milton Babbitt geworden. Nach einem kleinen Ausflug nach Hollywood war er schließlich 1955 am Broadway gelandet. Und dort bald als Co-Texter für das berühmte „Romeo and Juliet“-Projekt ausgewählt worden, das als „West Side Story“ um die Welt gehen sollte. 1968 brachte es Marcel Prawy schließlich auch an die Wiener Volksoper.
Dazwischen lag 1961 die wunderbare Verfilmung des Broadway-Hits unter der Regie von Robert Wise, die unser Bild der„West Side Story“ bis heute prägen sollte. Das dazugehörige Original-Soundtrack-Album wurde zum Steadyseller und entwickelte sich in den USA zur erfolgreichsten LP der Sixties, noch vor dem Original-Broadway-Cast-Album von Rodgers & Hammersteins „The Sound of Music“. Vermutlich stand der Soundtrack in jedem amerikanischen Haushalt. Und auch in Deutschland konnten viele die Songs mit den „Lyrics“ von Sondheim bald mitsingen.
1962 schließlich hatte sein erstes „eigenes“ Musical Premiere: „A Funny Thing Happened on the Way to the Forum“, nach Plautus. Eine Musical Comedy nach einer Vorlage von Plautus, Text & Musik: Stephen Sondheim. Richard Lester hat das Musical 1966 mit Zero Mostel und Buster Keaton verfilmt. In diesem Fall lag der deutsche Titel der Verfilmung gar nicht so daneben: „Toll trieben es die alten Römer“. Auf den Hit folgte 1964 ein gewaltiger Flop. Nach nur neun Vorstellungen verschwand „Anyone Can Whistle“ mit Angela Lansbury wieder vom Spielplan. 1970 schließlich läutete Sondheim mit dem Beziehungsmusical „Company“ nach „Hair“ eine neue Broadway-Ära ein, die er bis Mitte der neunziger Jahre entscheidend prägen sollte. D. A. Pennebaker, der schon Bob Dylan und Franz Josef Strauß mit der Kamera sehr nahe gekommen war, hat die Entstehung des „Original Cast Album Company“ mit der Kamera dokumentiert. Hier kann man Stephen Sondheim bei der Arbeit beobachten. Und sehen, wie die großartige Elaine Stritch im Studio bis zum Rande des Zusammenbruchs um ihre „ikonische“ Interpretation des späteren Klassikers „The Ladies Who Lunch“ ringt. Mit „Company“ begann auch die Zusammenarbeit mit dem kongenialen Arrangeur Jonathan Tunick, der bis zu „Passion“ (1994) die meisten seiner Musicals orchestrierte. Tunick war Sondheims musikalisches Alter Ego bei seinen großen Hits der siebziger Jahre: „Follies“ (mit dem Showstopper „Losing My Mind“), „A Little Night Music“ (mit dem Evergreen „Send in the Clowns“) oder „Sweeney Todd“. Und natürlich hat er auch den Sound von Sondheims Score zu Alain Resnais’ „Stavisky“ entscheidend geprägt. Im Laufe der Jahre gab es auch eine Reihe von Verfilmungen. Ausgerechnet der einstige „West Side Story“-Produzent und Regisseur vieler seiner Stücke, Harold Prince, hat diese Serie mit einer österreichischen Verfilmung von „A Little Night Music“ (nach einem Bergman-Film) erfolglos eingeleitet. Das mag auch an der fehlbesetzten Elizabeth Taylor gelegen sein. Die wohl schönste aller Sondheim-Verfilmungen gelang Tim Burton, für den „Sweeney Todd“ mit Johnny Depp als schurkischem Barbier natürlich ein gefundenes Fressen war.
In den achtziger Jahren schuf Sondheim noch zwei weitere sehr innovative Broadway-Musicals, das „pointillistische“ „Sunday in the Park with George“ (inspiriert von Seurat-Gemälden) und die Märchen-Show „Into the Woods“. Aber in dieser Zeit hatte bereits ein neuer „König“ den Broadway übernommen: der Brite Andrew Lloyd Webber, der am selben Tag Geburtstag feiert wie der New Yorker Sondheim.
Das letzte Kapitel: Wegen der Pandemie lag über ein Jahr lang der Film auf Eis, der noch einmal die großartigen „Lyrics“ Sondheims zelebrieren sollte: Steven Spielbergs „moderne“ Version der „West Side Story“. Eine sehr gelungene „schmutzigere“ Fassung des alten Stoffs, in der die „Diversität“ der Protagonisten betont wird und in der im Gegensatz zur Wise-Version alle Schauspieler auf der Leinwand auch selbst singen. Während Natalie Wood und einige ihrer Partner damals gedubbed werden mussten (Wood von der großartigen Marni Nixon), bilden Gesangsstimme und Körper in diesem Film eine fließende Einheit. Eine der ganz großen Stärken des Films. Ein besonderes Geschenk machte Spielberg Rita Moreno, die schon bei der ersten Verfilmung dabei gewesen ist. Und mit ihrer ergreifenden Interpretation von „Somewhere“ Vergangenheit und Gegenwart nun miteinander verbindet. Nur wenige Tage vor dem weltweiten Kinostart von „West Side Story“ ist Stephen Sondheim gestorben. Mit ihm ging eine Broadway-Ära zu Ende.