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Harrison Birtwistle (1934–2022). Foto: Charlotte Oswald
Harrison Birtwistle (1934–2022). Foto: Charlotte Oswald
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Die Tektonik entfesselter Klänge

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Zum Tod des englischen Komponisten Harrison Birtwistle
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„Wenn ich komponiere, arbeiten in mir gleichzeitig zwei Gegensätze, ja sogar Widersprüche. Die eine Seite befasst sich mit hochformalisierten Konzepten, die andere mit Improvisation und Intuition.“

Mitte der 1980er-Jahre hat sich Harrison Birtwistle ausführlich mit Bálint András Vargas „Drei Fragen“ auseinandergesetzt, die der 2019 verstorbene Promotion Manager der Universal Edition über mehrere Jahrzehnte zahlreichen Komponisten stellte. Birtwistle beschrieb damit gleichzeitig den Eindruck, den seine Musik beim Zuhören hinterlässt: Man spürt auf der einen Seite die Strenge der kompositorischen Anlage, die bis in feinste Verästelungen durchorganisiert ist, wird andererseits aber von der unmittelbaren Bildhaftigkeit der entfesselten Klänge in den Bann gezogen.

Exemplarisch hierfür steht das von Pieter Bruegels gleichnamigem Holzschnitt inspirierte Orchesterwerk „The Triumph of Time“, mit dem Birtwistle Anfang der 1970er nicht nur in England Furore machte. Der kontrollierten Wucht dieses Werkes kann man sich – vor allem im Konzertsaal – ebenso wenig entziehen wie der rhythmischen Tiefenstaffelung seiner „Earth Dances“ von 1986. Deren Tektonik ist in einer weiteren Antwort Birtwistles aus Vargas „Drei Fragen“-Buch beschrieben: „Meine Musik funktioniert so, als gäbe es viele Stränge. Stelle Dir Ebenen vor. Einige dieser Ebenen entstehen und einige vergehen. Wie der Evolutionsprozess des Lebens.“ Als würden sich Gesteinsschichten mehrfach gegeneinander verschieben – so wälzt sich diese exorbitante Musik unerbittlich voran.

1934 geboren, zeitweise der so genannten „Manchester School“ zugeordnet, entwickelte Harrison Birtwistle spätestens mit dem Skandalerfolg seiner makabren, 1968 uraufgeführten Kammeroper „Punch and Judy“ seine ganz eigene Tonsprache. Das Musiktheater bildete auch in den Jahren und Jahrzehnten danach einen Fixpunkt seines Schaffens: über „The Mask of Orpheus“ (1986), einem seiner Hauptwerke, über „Gawain“ (1990) und „The Last Supper“ (2000) bis zu „The Minotaur“ (2008). So wie theatrales Denken auch im Instrumentalwerk Spuren hinterlassen hat („Secret Theatre“, 1984) so spielt die Beschäftigung mit Mythen und Ritualen auch über die Bühne hinaus ein wichtige Rolle in seinen Werken, etwa in den „Ritual Fragments“ für Ensemble (1990).

Harrison Birtwistle wurde mit den wichtigsten nationalen und internationalen Musikpreisen (darunter dem Ernst von Siemens Musikpreis 1995) und zahlreichen Ehrendoktorwürden ausgezeichnet. Am 18. April ist er im Alter von 87 Jahren in Mere, Wiltshire verstorben.

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