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Ein älterer Mann mit weißen Locken hält die Hände energisch gestikulierend vor sich, während er vom Dirigentenpult mit dem Orchester probt.

Simon Rattle hat den Dirigenten neu definiert: kommunikativ, nahbar und stets interessiert am Neuen. Foto: Rui Camilo/Ernst von Siemens Musikstiftung

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Ernst von Siemens Musikpreis: Simon Rattle kurz vor seinem 70. Geburtstag geehrt

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Die Nachricht kommt überraschend: Simon Rattle, so denkt man, müsste diesen Preis doch schon während seiner Zeit in Birmingham oder Berlin bekommen haben. Aber nein, das hat er nicht. Nun wird er kurz vor seinem 70. Geburtstag am Sonntag mit dem Ernst von Siemens Musikpreis geehrt, der mit 250.000 Euro dotiert ist.

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Der 1955 in Liverpool geborene Sohn eines jazzaffinen Geschäftsmanns diskutierte bereits als Kind mit Dirigenten über ihre Interpretationen. Im Alter von 16 Jahren begann er an der Royal Academy of Music in London Klavier, Schlagzeug und Orchesterleitung zu studieren. Weltberühmt wurde er als Chef des City of Birmingham Symphony Orchestra zwischen 1980 und 1989. Hier definierte er die Rolle des Dirigenten neu: kommunikativ, nahbar und stets interessiert am Neuen.

Mit diesem Ansatz entwickelt er anschließend 16 Jahre lang als Nachfolger von Claudio Abbado die Berliner Philharmoniker weiter, was zu Befürchtungen führte, der angeblich „deutsche Klang“ dieses Orchesters könnte verloren gehen. Nach einem Zwischenspiel beim London Symphony Orchestra leitet Rattle seit 2022 das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks.

Unkonventioneller Chefdirigent

Seine erste Saison begann mit Haydns „Schöpfung“. Darauf folgten Mahlers Symphonie Nr. 6 sowie ein Programm der bisher von den Chefdirigenten des Orchesters meist gemiedenen zeitgenössischen Reihe musica viva und ein Familienkonzert. Auch das Werk einer zeitgenössischen Komponistin stand bald auf dem Programm, Rattles Lieblings-Oper „Idomeneo“ von Mozart ebenfalls. Und auch einen „Symphonischen Hoagascht“ mit bayerischen Blaskapellen hat es schon gegeben.

Rattles Repertoire ist ungewöhnlich breit: Es reicht von Bach und Rameau bis zur Musik der Gegenwart, mit einer Lücke in der Spätromantik. Zu Tschaikowsky hat er nach eigener Aussage keinen Zugang gefunden, sein Brahms ist nicht sehr aufregend, bei Bruckner ist er noch ein Suchender. 
Stark ist Rattle bei der klassischen Moderne und bei der Musik der Gegenwart, wo er zwar bisweilen eher auf Zugängliches aus Großbritannien setzt, aber auch Sperrigeres wie Werke von Georg Friedrich Haas dirigiert, wenn es ihn überzeugt. In diese Richtung zielt auch die Begründung des Kuratoriums der Ernst von Siemens Musikstiftung, die seine „Offenheit gegenüber unterschiedlichen musikalischen Genres“ und sein „unvergleichliches Engagement in der Vermittlungsarbeit“ hervorhebt.

Stil- und menschenoffen

Das bekannteste Dokument für Rattles dafür ist der 2003 entstandene Film „Rhythm is it“, der Rattles Arbeit mit den Berliner Philharmonikern und 250 Schülerinnen und Schülern aus Brennpunktschulen an Igor Strawinskys Ballett „Le Sacre du Printemps“ dokumentiert. In der Berliner Zeit des Dirigenten fällt die Gründung der Digital Concert Hall, die Konzerte des Orchesters auch außerhalb des Konzertsaals erlebbar macht – seinerzeit eine Neuerung, die sich heute beinahe als Selbstverständlichkeit auch bei anderen großen Orchestern durchgesetzt hat.

Rattle liebt Haydn ebenso wie Gershwins „Porgy and Bess“. Eine Konstante seiner Karriere ist die Musik von Leos Janacek, auf die er immer wieder zurückkommt. Im Unterschied zu den Dirigenten alter Schule beherrscht Rattle eine außergewöhnliche stilistische Vielfalt: Als einer der ersten großen Dirigenten brachte er bei Aufführungen der „Matthäuspassion“ oder von Beethovens Symphonien Einsichten des historisch informierten Stils in die Arbeit mit traditionellen Orchestern ein.

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Viele Notenlinien und ein paar Bleistift und wenige farbige Eintragungen. Darauf liegen die gealterten aber agilen Hände des Dirigenten.

Rattles Hände über seiner Partitur von Bachs „Matthäuspassion“. Foto: Rui Camilo/Ernst von Siemens Musikstiftung

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Sein Ziel ist ein transparenter und farbenreicher Orchesterklang: „Das Wichtigste für ein Orchester ist, dass es so viele Farben hat wie möglich“, sagt Rattle einmal, der in München als Wunschnachfolger seines 2019 verstorbenen Vorgängers Mariss Jansons gilt. Bisher scheint es, als könne es Rattle gelingen, die von Janssons  erarbeitete Spielkultur zu bewahren und zugleich das bisweilen etwas traditionelle Repertoire des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks weiterzuentwickeln.

Zu Jansons’ Erbe gehört auch der Wunsch nach einem eigenen Konzertsaal für das Orchester im Werksviertel. Er soll nach einer „Denkpause“ des Bayerischen Ministerpräsidenten nun neu und billiger geplant werden. Der Ernst von Siemens Musikpreis ehrt nicht nur Rattles bisheriges Lebenswerk, er signalisiert der Politik auch die Bedeutung dieses Dirigenten und der Musikstadt München, deren Akteure sich von der Politik des Freistaats und der Stadt bisweilen nicht ernst genommen fühlen.

Auch Komposition-Förderpreisträger*innen bekanntgegeben

Der Preis wird im Mai bei einem Festakt im Herkulessaal der Residenz verliehen. Mitglieder des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks spielen unter Leitung Rattles Arnold Schönbergs 1. Kammersymphonie – auch das ist eine für den Geehrten typische Wahl. Die mit je 35.000 Euro dotierten Förderpreise Komposition gehen 2025 an den iranisch-kanadischen Ashkan Behzadi, an Bastien David aus Frankreich und Kristine Tjøgersen aus Norwegen. Insgesamt vergibt die Ernst von Siemens Musikstiftung 4 Millionen Euro an verschiedenste musikalische Projekte, vorwiegend im Bereich der Zeitgenössischen Musik.

Der Geehrte kann mit dem Preisgeld machen, was er will. Auf Rattle lastet allerdings ein moralischer Druck: Der 2013 mit dem gleichen Preis geehrte Mariss Jansons spendete seine 250.000 Euro für den Konzertsaal im Werksviertel.