Vor 70 Jahren, am 7. Februar 1944, starb im KZ Theresienstadt der völlig entkräftete Berliner Arzt und Musikwissenschaftler Kurt Singer an einer Lungenentzündung. Nach Hitlers Machtantritt und den ersten brutalen Übergriffen der Nazis gegen die jüdische Bevölkerung hatte er zusammen mit Leidensgefährten den „Kulturbund der deutschen Juden“ ins Leben gerufen. Die Runde, die sich in der Wohnung des jüdischen Schöngeistes am 13. Juli 1933 in der Mommsenstraße 56 im Berliner Bezirk Charlottenburg getroffen hatte, wählte ihn zum Präsidenten dieser Notgemeinschaft von Entrechteten und Verfolgten. Eine Gedenktafel an dem Haus erinnert an dieses Ereignis.
Eine weitere Gedenktafel zu seinen Ehren wurde auch in der Deutschen Oper an der Bismarckstraße angebracht, denn von 1927 bis 1931 war er stellvertretender und für kurze Zeit kommissarischer Intendant des Hauses. Dem Ehrenpräsidium des Kulturbundes gehörten die Rabbiner Leo Baeck (1873–1956) und Martin Buber (1878–1965), der Maler Max Liebermann sowie die Schriftsteller Max Osborn (1870–1946) und Jakob Wassermann (1873–1934) an. Gelder kamen von der jüdischen Gemeinde Berlin, vom jüdischen Centralverein und anderen jüdischen Instanzen sowie von Privatspendern.
Der am 11. Oktober 1885 im westpreußischen Berent geborene Singer wirkte daneben noch als Dirigent des von ihm 1912 gegründeten Berliner Ärztechors und als Musikkritiker des sozialdemokratischen „Vorwärts“, damals noch eine Tageszeitung. Als Neurologe beschäftigte er sich intensiv mit den Berufskrankheiten der Musiker, weshalb ihm der preußische Kultusminister 1923 dafür einen dementsprechenden Lehrauftrag an der Hochschule für Musik erteilte. 1933 musste er auf Weisung der Nazis die Hochschule verlassen. Seit dem 31. Mai 2002 verfügt die Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ in Berlin über ein Institut für Musikergesundheit, das den Namen Kurt Singers trägt.
Der von ihm geleitete Kulturbund veranstaltete eigene Theater - und Opernaufführungen sowie Konzerte und Vorträge, aber auf strikten Befehl der Nazis nur von Juden für Juden. Ein getto-ähnlicher Zustand. Werbung in der nichtjüdischen Öffentlichkeit war streng untersagt. Zudem durften die Tageszeitungen nicht auf Veranstaltungen des Kulturbundes hinweisen, geschweige denn darüber berichten; das war einzig jüdischen Journalisten für jüdische Zeitschriften erlaubt. Den ursprünglich etwa 20. 000 Mitgliedern des Kulturbundes stand zunächst das Berliner Theater in Kreuzberg zur Verfügung, das in der NS–Zeit einem Behördenbau weichen musste. Nach dem Abriss des Theaters quartierte sich der Kulturbund 1935 in dem leerstehenden früheren jüdischen Theater der Gebrüder Herrnfeld in der nahegelegenen Kommandantenstraße 58–59 ein. Eine Gedenkstele macht die Passanten auf dieses dunkle Kapitel deutscher und Berliner Geschichte aufmerksam: „Fast alle, die hier arbeiteten, wurden in Konzentrationslagern ermordet.“ Vier Jahre später, am 1. Oktober 1939, nahmen die Nazis den Juden auch dieses Theater weg. Die Verfemten konnten nur noch die Armin - Hallen nebenan benutzen. Opern mussten konzertant und Schauspiele ohne Dekorationen aufgeführt werden. Mit Einführung des so genannten Judensterns im September 1941 wurde der Kulturbund aufgelöst. Die Zahl der Mitglieder war im Laufe der Jahre rapide gesunken, da viele emigrierten oder ins KZ verschleppt wurden. Allein nach dem Pogrom vom 9. November 1938 sank die Zahl der Mitglieder auf 7.700.
Die Aufsicht über den Kulturbund übte der Staatskommissar Hans Hinkel (1901–1960) in Goebbels’ Reichspropagandaministerium aus. Wie gefährlich der Mann war, zeigte sich schon daran, dass er sogar in der Partei als unangenehmer Typ verschrien war. Hinkel knebelte die Musen: Der Kulturbund durfte nicht alle deutschen Musikwerke und Theaterstücke aufführen. Durch die Blume gab Singer 1936 bekannt, welche Komponisten unerwünscht sind. „Es liegt auf der Hand, dass wir aus Taktgefühl nicht an Wagner, Lortzing und Weber herangehen.“ Schon 1934 hatten die Nazis die Aufführung von Dramen und Tragödien Schillers und Goethes untersagt. Um den Machthabern nicht den geringsten Anlass zu Willkürakten zu geben, erließ die Leitung des Kulturbundes vorsichtig umschriebene Verhaltensregeln für die Besucher der verschiedenen Veranstaltungen: „Aus technischen Gründen ist das Parken von Autos vor dem Theater nicht zulässig. Wir bitten unsere Mitglieder dringend, in Auftreten, Kleidung und Haltung zu berücksichtigen, daß wir Repräsentanten einer in Not befindlichen Gemeinschaft sind. Wir wollen unserer Umgebung keinen Anlass zum Ärgernis geben. Wir bitten unsere Mitglieder, politische Gespräche jeder Art während der Veranstaltung zu meiden.“ Der letzte Satz lässt darauf schließen, dass die Gestapo Spitzel eingeschleust hatte.
Nach dem Berufsverbot für jüdische Sänger, Musiker und Schauspieler boten die Veranstaltungen des Kulturbundes verfemten Künstlern vorübergehend die einzige Lebensgrundlage. Das war Bestandteil eines teuflischen Plans der Nazis: Die vom Regime auf die Straße gesetzten Künstler entgingen der Arbeitslosigkeit, da sie der Kulturbund aus eigenen Mitteln bezahlte. Zugleich machten sie an den Bühnen und in den Orchestern Planstellen für arbeitslose „Arier“ frei. Wenn nötig, so eine weitere Überlegung der Nazis, konnte man dem Ausland scheinheilig demonstrieren, dass die Juden als Minderheit in Deutschland ihre Kultur pflegen dürften. Schon zwei Jahre nach Hitlers Machtantritt gab es in 36 Städten solche Kulturbünde, die 49 jüdische Gemeinden betreuten. Die größte Aktivität entfaltete der Berliner Kulturbund. Mit 60 Aufführungen von Schauspielen, Opern und Operetten - Konzerte, Vorträge und Ausstelllungen nicht mitgerechnet - gestaltete er allein für 1933 einen Spielplan, der jedem anderen Theater zur höchsten Ehre gereicht hätte. Den Auftakt am 1. Oktober 1933 bildete Lessings „Nathan der Weise“ mit Kurt Katsch (1896–1958) in der Titelrolle. Das war bezeichnenderweise die einzige Inszenierung des Dramas mit der berühmten Ring - Parabel in Deutschland während der gesamten NS - Zeit. Es war 150 Jahre zuvor am 14. April 1783 in Berlin in einem Theater an der Behrenstraße, wo heute die Komische Oper steht, uraufgeführt worden. Katsch war sehr früh in die USA emigriert, wo er in Hollywood - Filmen ausgerechnet Nazi–Rollen übernehmen musste. In Berlin wurde der „Nathan“ erst wieder am 7. September 1945 am Deutschen Theater mit Paul Wegener (1874–1948) aufgeführt.
Mitte Oktober 1933 folgte ein Sinfoniekonzert des Kulturbund–Orchesters mit Werken von Händel, Mozart und Tschaikowsky. Am 14. November stand Mozarts „Hochzeit des Figaro“ unter der Leitung des am 10. April widerrechtlich aus seinem Amt entfernten Mannheimer Generalmusikdirektors Joseph Rosenstock (1895–1985) auf dem Programm. Rosenstock wanderte sehr bald in die USA aus, wo er Chefdirigent der New York City Opera wurde. Nach dem Tode des Reichspräsidenten von Hindenburg setzte Singer für den 2. August 1934 ein Gedenkkonzert mit Beethovens „Eroica“ an.
Am 1. Oktober wurde die neue Bleibe in der Kommandantenstraße mit Hebbels „Judith“ eröffnet. Im selben Jahr befahlen die Nazis die Entfernung des Wörtchens „deutsch“ aus dem Vereinsnamen, also nur noch „Jüdischer Kulturbund“.
Im Herbst 1938 hielt sich Singer mehrere Wochen in den USA auf. Ziel seiner Reise war es, jüdische Institutionen und Persönlichkeiten zu finden, die die vollständige Transferierung des Jüdischen Kulturbundes, das heißt der Künstler, des technischen Personals, des Fundus, der Instrumente sowie sonstiger Werte in die USA unterstützen sollten. Zugleich nahm er Kontakte zu akademischen Kreisen auf. Nach dem Pogrom vom 9. und 10. November kehrte er sofort nach Europa zurück. In den Niederlanden warnte man ihn dringend vor einer Wiedereinreise nach Deutschland. Inzwischen davon überzeugt, dass es für die Arbeit des Jüdischen Kulturbundes keine Grundlage mehr gab, blieb er in Amsterdam. Dort betätigte er sich als Musikschriftsteller, hielt Vorträge über Musik und gab Musikunterricht. Seine Hoffnungen auf einen Ruf an eine US–Universität zerschlugen sich. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht im Frühjahr 1940 arbeitete er für die von den Deutschen eingesetzte jüdische Selbstverwaltung in Amsterdam. Auch leitete er in den Jahren 1941-1942 einen Chor, der vor ausschließlich jüdischem Publikum auftrat. Schließlich deportierte ihn die Gestapo in das KZ Theresienstadt, wo er Händel–Oratorien von Häftlingen für Häftlinge organisierte und leitete. „Wenn nicht in Theresienstadt, wo sonst? Es gibt kein Land und keine Stadt in Europa, in der ein ‚Israel’ oder ‚Judas Maccabäus’ aufgeführt werden könnte. Nur Theresienstadt hat diese Chance.“