Am 22. November feiert der Dirigent Kent Nagano seinen 70. Geburtstag. Für die nmz sprach Burkhard Schäfer mit dem Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper über seine musikalische Sozialisation, den Klassik-Betrieb und sein kürzlich erschienenes Buch „10 Lessons of my Life“.
Herr Nagano, was waren Ihre ersten prägenden Musikerlebnisse?
Die „Inventionen“ von Bach, in die mich mein Musik- und Klavierlehrer, der Georgier Wachtang Korisheli, eingeführt hat, haben mich als Kind sehr beeindruckt. Sie bilden die Basis des Klavierunterrichts für Kinder und Jugendliche. Ein weiteres, besonders prägendes Erlebnis war, als die San Francisco Symphony in unserem Dorf die Neunte von Beethoven aufgeführt hat und meine Eltern mit mir damals dieses Konzert besuchten. Wir saßen in der Nähe des Schlagzeugs und ich war vom vierten Satz unheimlich fasziniert, besonders, wenn beim Marsch das helle Becken erklang. Dieses Erlebnis ist unvergesslich für mich. Deshalb liebe ich Tourneen und Auftritte, die nicht unbedingt nur auf den großen Bühnen stattfinden, denn man weiß nie, welches Kind dann im Publikum sitzen und ebenfalls völlig beeindruckt wieder aus solch einem Konzert herausgehen wird. Ich würde deshalb niemals die Frage stellen: Ist es überhaupt notwendig, in einem kleinen Dorf zu gastieren? Es ist notwendig!
In Ihrer Kindheit gab es keinen Fernseher. War das im Nachhinein gut für Ihre Entwicklung?
Wir hatten damals tatsächlich keinen Fernseher und das ist auch heute noch so. Allerdings war das keine bewusste Entscheidung meiner Eltern. Wir hatten auf unserer Farm zwischen Küste und Bergen einen sehr schlechten Empfang. Den einzigen Sender, den wir mehr schlecht als recht empfangen konnten, war der mit Wettervorhersagen. Für meine Eltern als Farmer spielte das Wetter eine große Rolle. Als Kinder konnten wir unserer Fantasie und Kreativität freien Lauf lassen, denn Fantasie macht die kindliche Welt aus. Für mich war das prägend. Hätte ich sonst eine so tiefe Verbindung mit der Natur eingehen können? Vielleicht hätte ich auch nicht diese Neugierte entwickelt, zu lesen und durch Bibliotheken zu streifen. Kinder finden in der Regel immer einen Weg, sich ihre Neugierde und Kreativität zu erhalten – wahrscheinlich auch trotz Fernseher. Trotzdem glaube ich rückblickend, dass es für mich damals von Vorteil war. Wenn Sie dagegen den vierjährigen Kent Nagano gefragt hätten: der wäre sehr, sehr neidisch auf Kinder gewesen, die Fernsehen schauen konnten (lacht).
Musik – Soziologie – Naturwissenschaft
Sie haben Soziologie und Musik studiert. Inwieweit passen diese beiden Disziplinen zueinander?
Wenn man die Geschichte der europäischen Zivilisation verfolgt – die Zeit vom Mittelalter zur Aufklärung, also die Renaissance –, dann stellt man fest, dass dies eine sehr interessante Zeit war. Musik war im Mittelalter immer gegenwärtig und hat eine sehr bedeutende Rolle gespielt, aber eben mit einer sehr wichtigen Einschränkung: ziemlich oft wurde Musik nicht für eine offene Gesellschaft aufgeführt, sondern exklusiv im kirchlichen und aristokratischen Kontext. Doch mit der Aufklärung änderte sich das und es entstand weitgehend das, was wir heute als klassische Musik bezeichnen. Die Erscheinung eines Bach, Mozart, Haydn oder Beethoven – das war stark mit einer sozialen Entwicklung verbunden. Soziologie und Musik sind deshalb tatsächlich organisch verbunden. Die Ideen der Aufklärung – Individuum, Freiheit und das Gefühl, dass wir alle Brüder sind – werden in der Musik als bedeutende Themen verhandelt, sozusagen parallel zur gesellschaftlichen Entwicklung. Denken Sie nur an die Französische oder die Amerikanische Revolution! Die Frage bleibt immer gleich: was ist die Rolle der Musik in der Welt? Sie ist mindestens ein bedeutender Kommentar der Zeitläufte, im besten Falle aber auch Treiber gesellschaftlicher Entwicklungen.
Ihr Vater war Architekt und Mathematiker, Ihre Mutter Mikrobiologin. Inwieweit ist Musik für Sie auch eine Naturwissenschaft?
Meine Mutter war auch Pianistin und Cellistin und hat mir die Liebe zur Musik besonders weitergegeben. Und da mein Vater ebenfalls Musik gespielt hat, musizierten wir zuhause oft gemeinsam. Durch meinen Vater habe ich die Liebe zur Mathematik vererbt bekommen. Was vielleicht interessant ist, ist die Demut, die in meiner Familie durch die Familiengeschichte bedingt geherrscht hat. Beide Elternteile haben ihre Karrieren dafür aufgegeben, um die Farm meines Großvaters zu übernehmen. So zogen sie sich also trotz ihres hohen Bildungsgrades aufs Land zurück und wurden Bauern: Mathematik, Musik, Architektur, Wissenschaft und die Natur gehörten in unserer Familie einfach zusammen. Sie fügten sich ineinander. Rückblickend ein wertvolles Geschenk: die Intensität dieser Bereiche war immer vorhanden und für uns als Kinder immer als Teil der Natur repräsentiert. Ich empfinde deshalb keine Grenze zwischen Musik, Naturwissenschaft, Kreativität und Natur. Das eine bedingt das andere. Sie sind alle Teile eines großen Ganzen.
Können wir angesichts der Naturzerstörung und des Klimawandels Werke wie beispielsweise „Die Schöpfung“ von Haydn heute noch unvoreingenommen hören?
Die „Schöpfung“ und die „Jahreszeiten“ von Haydn oder die „Pastorale“ von Beethoven haben ja früher schon die Zerstörung der Umwelt durch die damalige industrielle Revolution musikalisch thematisiert. Haydn war in London und hat diese schrecklichen Produktionsbedingungen mit eigenen Augen gesehen. Beethoven kannte den Wiener Wald und wusste, was dort die industrielle Revolution in der Natur anzurichten in der Lage war. Diese Beispiele zeigen: Jedes Mal wird ein neuer technischer Impuls auch zum künstlerischen Impuls.
„Um die Musik selbst mache ich mir keine Sorgen“
Wie wird sich der Klassik-Betrieb angesichts von Corona und Climate Change verändern?
Man muss sich immer daran erinnern, dass die Musikindustrie und die klassische Musik zwei verschiedene Dinge sind. Ich glaube, alle sind damit einverstanden, dass unser Leben sowieso nicht wieder wie vor dem Corona-Virus werden wird. Die jetzige Situation wird insgesamt eine Änderung bringen. Aber die kritische Frage ist doch: Wie wird diese Änderung aussehen? Ich, als Musiker, bin fest davon überzeugt, dass die Musik selbst sich Richtung Zukunft weiterentwickelt. Etwa, wenn ich an die wunderbaren Erfahrungen denke, die ich mit jungen kreativen Musikern und ihren Werken mache. Oder wenn ich an den Generationenwechsel in unserem Orchester denke. Die nächste Generation bringt wieder ganz neue Perspektiven mit. Kombiniert mit den Erfahrungen der erfahrenen Orchestermitglieder ergibt dies eine tiefe Kenntnis von Stil und Repertoire und dabei kommt ein ganz starker und wunderbarer Impuls für die Zukunft heraus. Um die Musik selbst mache ich mir keine Sorgen. Man kann es überall beobachten: Beethoven lebt in China, Bach lebt in Afrika, Mozart lebt in Kanada.
Seit der Digitalisierung ist auch der Klassik-Markt rapiden Veränderungen unterworfen. Mit CDs verdienen Künstler schon lange nichts mehr, Streaming ersetzt das Live-Erlebnis…
Was Sie beschreiben, betrifft die Repräsentation von Musik. CD und Fernsehen repräsentieren die Musik und das ist eine Art des Musik-Teilens. Durch Streaming oder Aufnahmen wird unser Publikum natürlich viel breiter. Zum Beispiel haben mein Vater und ich als Kind am Wochenende den Metropolitan Podcast gehört. Nur hieß das damals noch nicht Podcast (lacht). Sonntags haben wir oft auch Leonard Bernsteins Konzert für junge Leute im Fernsehen verfolgt. Das sind großartige Kindheitserinnerungen, die mich auch heute noch beglücken. Die Darstellungsformen von Musik ändern sich mit der Technologie. Heute wird hauptsächlich gestreamt. Aus dem Fernsehen ist die Klassik hingegen weitgehend verschwunden. Durch die neuen Technologien und das Internet hat sich der Zugang zur klassischen Musik enorm verbreitert. Das ist eigentlich eine unglaubliche Chance – für die Menschen und auch für die Musik selbst.
Drei Indikatoren der Kreativität
Wie schaffen Sie es als Dirigent, sich immer wieder für Werke zu begeistern und vor der Abnutzung durch die ständige Wiederholung – insbesondere des Kanons – zu bewahren?
Die Idee von Kreativität umfasst nicht immer die gleichen sich wiederholenden Aktionen. Wenn man über Musik nachdenkt, stellt man fest, dass auch sie sich aus verschiedenen kreativen Indikatoren zusammensetzt: Als erstes haben wir den Komponisten, der durch seine Inspiration ein Stück geschaffen hat. Aber alle Komponisten, die ich kenne, sagen: wenn die Partitur auf dem Papier steht, dann ist sie nicht mehr meine Inspiration. Sie ist nun das Kunstwerk, das mir meine Inspiration erlaubt hatte zu schreiben. Und an dieser Stelle kommt der zweite Teil ins Spiel: der Interpret, seine Verantwortung und seine kreativen Impulse. Wir Interpreten erschaffen die Musik live immer wieder neu. Es ist nicht wie bei der bildenden Kunst. Die Live-Musik existiert nur in dem Moment, indem wir sie spielen. Erst wenn sie gehört wird, entsteht Musik. Sie braucht also schon einen Rezipienten. Denn im Grunde sind die Töne, die wir spielen, nichts anderes als akustische Reize, die die Gehirne der Zuschauer erst zur Musik machen. Das Publikum ist also unbedingter Teil der Musikentstehung und antwortet auf seine Art und Weise. Und so sprechen wir über drei Formen von Kreativität. Der Komponist und seine Inspiration, der Musiker und seine Interpretation und das Publikum und seine stets ganz individuelle Rezeption. Für die Musik braucht es alle drei.
Lassen Sie uns zum Schluss noch über Ihr neues Buch „10 Lessons of my life“ reden. Welche Botschaft wollen Sie damit vermitteln?
Das Buch wirft einen Blick auf das Lernen. Wir alle lernen ja nicht nur in der Schule oder an der Universität. Die wichtigsten Lektionen ergeben sich in sozialen Kontexten, also in der Interaktion mit anderen Menschen. Genau das wollte ich in diesem Buch zeigen. Es handelt von Begegnungen mit Menschen, die meine Einstellung, mein Denken, ja sogar mein Leben verändert haben: Messiaen natürlich, Bernstein, aber auch Sarah Caldwell, die Pop-Sängerin Björk und nicht zuletzt Alfred Brendel. Ich zeige, wie sehr der Zufall bestimmt, ob wir Menschen begegnen, von denen wir etwas annehmen können. Und wie viel Glück dazu gehört, dass wir diesen Menschen genau dann begegnen, wenn wir für ihre Botschaften bewusst oder unterbewusst empfänglich sind. Da kann ein Mentor eine Rolle spielen, ein hochinteressanter Professor oder ein Kollege. Ich bin Menschen begegnet, die in ihrer Großzügigkeit, ihr Wissen und ihre Erfahrung zu vermitteln, keine Grenzen kannten. Die Mehrheit derer, über die ich schreibe, lebt nicht mehr. Aber es war mir ein Anliegen, sie noch einmal lebendig werden zu lassen, so wie sie in meiner Erinnerung stets lebendig geblieben sind. Der Inhalt des Buches soll zeigen, wie ich in meiner Persönlichkeitsentwicklung weitergekommen bin. Vielleicht wird er die Leser auch dazu inspirieren, zu überlegen, wer in ihrem Leben Spuren hinterlassen hat.
- Kent Nagano und Inge Kloepfer: 10 Lessons of my Life. Was wirklich zählt. Berlin Verlag, 208 Seiten, 22,00 Euro, ISBN 978-3-8270-1447-4