Hamburg - Seit 40 Jahren leitet John Neumeier das Hamburg Ballett - und führte es zu Weltruhm. Kaum ein anderer Choreograph hat seine Compagnie so geprägt wie der gebürtige Amerikaner. «Das Wichtigste ist die Liebe zu dieser Kunst», beschreibt Neumeier seine Arbeit im dpa-Interview mit Carola Große-Wilde.
Als Sie 1973 mit 31 Jahren nach Hamburg kamen, hätten Sie da gedacht, dass Sie so lange bleiben werden?
Neumeier: «Nein, natürlich nicht. Das Angebot von August Everding - ein Drei-Jahres-Vertrag - kam unerwartet. Als ich sah, welch gute Rahmenbedingungen ich für meine Arbeit bekommen sollte, habe ich zugesagt. Aber ich habe gesagt, ich will es konsequent machen, und deshalb habe ich mich entschieden, nach vielen Vorstellungsbesuchen, reiflichen Überlegungen und Einzelgesprächen 16 Verträge von Tänzern nicht zu verlängern. Das hat dazu geführt, dass es einen großen Skandal gab und ich der unpopulärste neue Ballett-Direktor war.»
Warum sind Sie dann doch in Hamburg geblieben?
Neumeier: «Weil es immer eine Entwicklung gab, es sich immer wieder bewegt hat. Wenn etwas in Bewegung ist, dann kann man mitgehen. Wenn etwas stehenbleibt, dann geht man woanders hin. Die Compagnie hat sich verändert und erstaunliche Möglichkeiten entwickelt. Diese Compagnie ist auch nicht in Hamburg geblieben. Diese Compagnie hat
wahrscheinlich sehr viel mehr Tourneen gemacht als jede andere
deutsche Compagnie. »
Was ist das Besondere an ihrer Compagnie?
Neumeier: «Es ist eine Compagnie von Menschen, die versuchen, in Ehrlichkeit eine Kunst auszuführen. Die versuchen, in welcher Form von Ballett auch immer, ob klassisch oder modern, ob eine Kreation von mir oder jemand anderem, die menschliche Ebene zu erleuchten. Das Ballett ist ein Kunstwerk der Kommunikation. Es ist eine Kunst, in der Menschen sich selber sehen sollen und etwas über sich und ihre möglichen Visionen lernen können. Und ich glaube, dass das die Compagnie in einer Form von Konzentration und Hingabe macht, die ein Publikum überzeugt.»
Welche Eigenschaften braucht ein Choreograph, der eine solche Compagnie leitet?
Neumeier: «Ich glaube, das Wichtigste ist genau das, was ich auch von der Compagnie verlange: Das Wichtigste ist die Liebe zu dieser Kunst und die Hingabe und dass man nie Nein zu einer neuen Herausforderung sagt.»
Sie haben bisher mehr als 150 Ballette kreiert. Gibt es noch etwas, das Sie reizen könnte?
Neumeier: «Sicher, das nächste (lacht). Das nächste ist die Fortsetzung des «Weihnachtsoratorium», Teil 4-6, und die Uraufführung von «Tatjana» nach dem Roman «Eugen Onegin» von Alexander Puschkin mit der Musik von Lera Auerbach. Die größte Aufgabe ist jedoch, die Compagnie lebendig, in Bewegung zu halten. Das Schwierigste ist, diese Energie zu erhalten. Und dass man etwas macht, woran man glaubt.»
Sie sind jetzt 71 Jahre alt. Denken Sie daran, wie Ihr Lebenswerk weitergeführt werden soll?
Neumeier: «Natürlich denke ich darüber nach. Vor einigen Jahren habe ich eine Stiftung gegründet, die später meine Werke verwalten wird. In welcher Form, ist nicht unkompliziert. Denn hier handelt es sich ja nicht um eine Sammlung von Gemälden, die man nur aufbewahren muss und die sich nicht ändert. Ein Ballett lebt nur, wenn es getanzt
wird. Und es lebt nur, wenn es getanzt wird mit Überzeugung. Dafür habe ich unter anderem eine Gruppe von Ballettmeistern, die mit mir arbeiten und die meine Ballette hier und woanders weitergeben. Und für die Zukunft ist die Aufgabe, dieses eventuelle Erbe lebendig zu halten.»
Die wichtigsten Choreografien von John Neumeier
- «Romeo und Julia» (1971/2004)
- «Der Nussknacker» (1971)
- «Die dritte Sinfonie von Gustav Mahler» (1975)
- «Schwanensee» (1976)
- «Ein Sommernachtstraum» (1977)
- «Die Kameliendame» (1978)
- «Matthäus-Passion» (1981)
- «Endstation Sehnsucht» (1983)
- «Fenster zu Mozart» (1991)
- «Requiem» (1991/2006)
- «Sylvia» (1997)
- «Messias» (1999)
- «Nijinsky» (2000)
- «Préludes CV» (2003)
- «Tod in Venedig» (2003)
- «Die kleine Meerjungfrau» (2007)