Hamburg - Über sein Alter hat John Neumeier nur ein einziges Mal wirklich nachgedacht. "Als ich 17 war, da wollte ich unbedingt 18 werden. Darauf hatte ich sehr gewartet", erinnert er sich im dapd-Interview. Seither seien seine Geburtstage längst nicht mehr so wichtig wie seine Choreografien, die "in gewissem Sinne Epochen markieren". Am 24. Februar feiert der preisgekrönte Ballettdirektor seinen 70. Geburtstag. Doch das für ihn bedeutendere Jubiläum steht 2013 an: Dann leitet Neumeier seit 40 Jahren das Hamburg Ballett. "Das hätte ich nie gedacht. Das war nie geplant. Aber es hat sich so entwickelt."
1942 in Milwaukee im US-Bundesstaat Wisconsin geboren, entfacht der russische Tänzer und Choreograf Vaslaw Nijinsky Neumeiers Leidenschaft zum Tanz. Neumeier ist elf Jahre alt, als er auf dem Schulhof "The Tragedy of Nijinsky" von Anatole Bourman liest. "Das war für mich wie eine Art Offenbarung", sagt er. Das Buch habe ihm die so weit entfernte Welt des Theaters und des Balletts näher gebracht. "Ich hatte das Gefühl, dass ich Nijinsky kannte", erklärt Neumeier den Beginn seiner ungebrochenen Faszination für den Tänzer. Er sei einer der großen Künstler des 20. Jahrhunderts gewesen.
Der "große Schritt" von Frankfurt nach Hamburg
Neumeier selbst erhält seinen ersten Ballettunterricht in seiner Heimatstadt, später in Kopenhagen und dann an der Royal Ballet School in London. Er studiert an der Marquette University in Milwaukee Englische Literatur und Theaterwissenschaften. John Cranko holt den jungen Neumeier 1963 an das Stuttgarter Ballett. Dort avanciert er zum Solisten und kreiert seine ersten Choreografien. 1969 beruft ihn Ulrich Erfurt als Ballettdirektor nach Frankfurt am Main. August Everding holt Neumeier schließlich 1973 in gleicher Funktion und zudem als Chefchoreograf nach Hamburg - "ein großer Schritt" für den rastlosen Arbeiter, der in der Hansestadt seine Vision von einem abendfüllenden Ballett und der Auseinandersetzung mit dem klassischen Repertoire wahr werden lassen möchte.
Aus dem zunächst für drei Jahre geschlossenen Vertrag wird eine lebenslange Bindung. Dabei hatte es der US-Amerikaner alles andere als leicht in Hamburg. "Man hielt mich für ein junges Monster. Niemand wusste so richtig, was ich wollte und vorhatte", sagt Neumeier. Unermüdlich, konsequent und streng baut er sich seine Compagnie auf, trennt sich von ungeeigneten Tänzern und fordert mehr Aufmerksamkeit für das Ballett. "Ich konnte nur durch Arbeit überzeugen, nicht durch Reden."
Unter Neumeiers Direktion steigt das Hamburg Ballett zu einer der besten deutschen Compagnien auf, wird mit Preisen überhäuft und auf den Bühnen der Welt umjubelt. Das Gefühl, etwas vollendet zu haben, hat sich jedoch bis heute nicht bei Neumeier eingestellt. "Im Gegenteil, es war immer so, dass irgendetwas fehlte." Er habe stets neue Aufgaben gefunden, die erledigt werden mussten - angefangen von einer Schule für den Nachwuchs über mehr Auftritte für die Compagnie bis hin zum Pilotprojekt Bundesjugendballett. Die Jugendcompagnie, ein lang gehegter Traum von Neumeier, tritt auch in Seniorenheimen und Gefängnissen auf.
So gab es in den Jahrzehnten immer wieder Momente, in denen er kurz davor war, zu gehen, weil seine Vision zu scheitern drohte. "Aber dann ging immer wieder was, und ich bin immer noch hier", schmunzelt der Jubilar, der seit 1996 zudem Ballettintendant ist. Für seine Tänzer empfindet er wahre Verantwortung: "Wir haben 58 Tänzer. Die wären enttäuscht von mir, wenn ich, der Familienvater, ihnen nichts zu essen gäbe." Und auch in den Herzen der Hamburger ist er längst angekommen, dokumentiert in der Ernennung zum Ehrenbürger 2007.
"Der Job ist nun mal intensiv"
John Neumeier ist niemand, der zurückblickt oder im Voraus plant. Für ihn ist das nächste Projekt das wichtigste. Und obwohl er manchmal schon spürt, dass es mit 70 Jahren schwerer geworden ist, seinen Tänzern die Choreografien vorzumachen, kann er nicht anders: "Dieser Job ist nun mal intensiv, und ich werde es bis zum Ende so machen", sagt er. Er könne nur so arbeiten, wie er nun mal arbeite.
Eine große Feier zu seinem 70. Geburtstag wünscht er sich nicht, stattdessen "ein paar mehr Lehrer, ein paar mehr Pianisten, ein paar mehr Tänzer" für sein Ballettzentrum. "Oder wäre es nicht schön, wenn wir einen kleinen Bus für das Bundesjugendballett hätten, damit die Tänzer auf dem Weg zum Auftritt nicht mit ihren Kostümen in die U-Bahn steigen müssen?" Dafür müsse er noch sorgen, dafür sei er noch da.