Am 25. September 2008 starb der Komponist Horatiu Radulescu. Der rumänische Universalkünstler galt als einer der wichtigsten Vertreter des Spektralismus. Er hinterlässt ein philosophisch-musikalisches Gesamtwerk, das eine Brücke zwischen rumänischer Volksmusik, fernöstlicher Philosophie und Phänomenologie schlägt. Ein Nachruf auf den Klangphilosophen.
Wenn auch immer wieder festgestellt wurde, dass Horatiu Radulescu von der Vorstellungswelt eines Edgar Varèse geprägt sei, so stimmt dies nur teilweise und bezieht sich auf die Zeit seines Exils in Frankreich nach 1969, welches ihm, dem in der Zeit des Ceaucescu-Regimes in Bukarest alle künstlerischen Perspektiven und Entfaltungsmöglichkeiten genommen waren, zur Heimat wurde. Vielmehr speiste sich sein kreatives Tun im Ursprung - gleich Bela Bartók in Ungarn - aus dem in Rumänien zu dieser Zeit noch vollkommen intakten Volksmusik und einer visionären stark theo-philosophisch geprägten Religiosität. So wurde er über dieses duale Sujet zum eigentlichen ästhetisch-stilistischen Singulär, als der er in die Geschichte eingehen wird. Schon hier war sein Weg als Klangphilosoph, als der bedeutendste Ästhetiker der spektralen Klangarchitektur und Klangsynthese vorgezeichnet.
Seine „Theorie über phänomenologische Komposition“, die erstmals sichtbar ausgeführt in seiner Komposition „Flood fort he Eternal’s Origins“ op. 8 für allgemeine Klangquellen (1970) erscheint, versucht eine Analyse und Beschreibung der variablen Aufteilung der spektralen Klangenergie und die Synthese von Klangquellen, insbesondere der mannigfaltigen Welt der Interferenzen zwischen reiner und temperierter Stimmung. Dies führt zu hochkomplexen Firmamenten, die mit Hilfe eines ebenso komplexen Systems hochrangiger Obertonstrukturen, ja Klanggegenständen auf singuläre Weise geschaffen wurde.
Und da sind wir schon bei einer sein weiteres Leben prägenden geistigen Bezugquelle angekommen, der fernöstlichen Philosophie, insbesondere der des chinesischen Philosophen Laotse. Dies gründet seine Vorstellung von Zeit und deren musikalischer Organisation, die auf changierende Klangskulpturen ausgerichtet ist, ruhend, fast zum Stillstand kommend, zu allererst in den Klang hineinhorchend, in mit dem Ohr und vor allem mit dem Leib erfahrend. Der Klang wird so zum Geschick, und zu einer göttlichen Botschaft, die den schöpferischen Menschen zum Mittler bereithält. Er ereignet sich und schreitet nicht fort im Sinne des westlichen Zeitstruktur des nach vorn Drängens. Er verändert sich aber permanent wie das Konstrukt seiner ihn tragenden Obertonstrukturen, die Vision und Eternità zugleich in sich tragen.
Anders als bei Morton Feldman hat dieses rhythmische Konstrukt eine zugleich minimalistische Komponente, was mit der kurzzeitigen Beschäftigung Radulescus mit dem Zen-Buddhismus zusammenhängt. So sehr die spektrale Klanggenese dem zehn Jahre zuvor verstorbenen Gérard Grisey ähnelt, so sehr sind diese beiden wichtigsten Spektralisten, in dieser Hinsicht beide Jahrhundertfiguren, doch extreme Antipoden. Von Barraqué, Messiaen und Boulez geprägt, folgte Grisey, obschon auch er Werke von extremer Länge schuf, in den übrigen Parametern einen durch und durch zentraleuropäischen Ansatz. Radulescu, genauso wie Grisey jedoch ein Meister der Form, wusste seine extrem langen Werke genau durchzustrukturieren. Das jeweilige Zeitmaß ist auf die Sekunde genau bemessen. Die Struktur ergibt sich aus dem Konzept der Fortschreitung der Obertonsäulen, die zuweilen auch in horizontale Linien und polyphone, ja hyperpolyphone Großabschnitte münden können.
Wie etwa in seinem Vierten Streichquartett „infinite to be cannot be infinite, infinite anti-be could be infinite“(1976-87). Hier steht wieder sein Haupthema, das Aeternum, der virtuelle Raum als visionäre nicht faßbare Dimension Pate für den Titel. Als weitere Schlüsselwerke, in denen die Differenzierung der Obertöne bei gleichzeitigem Stillstand der Zeit, so als hörte die Zeit auf zu Sein, zu großer Meisterschaft gebracht würde, wären vor allem zu nennen: „Inner Time II“ (1993) für sieben Klarinetten, eine einstündige Studie für Karinettenensemble, meisterhaft ausgeführt vom „Clarinet-System Armand Angster-Ensemble aus Strasbourg oder etwa das singuläre Schlagzeugensemble-Stück „Dr. Kai Hong’s Diamond Mountain für 61 Spektralgongs und Solisten (1991).
Aber es gibt auch zahlreiche Werke mit einem europäisch geprägten rhythmischen Ansatz: Seine zweite Klaviersonate „beeing and non beeing create each other“ op 82 (1991)und seine dritte Klaviersonate „you will endure forever“ op. 86 (1992/99). Interessanterweise sind alle Werke dieses Typs sehr viel stärker in ihrer Klanglichkeit von der rumänischen Volksmusik geprägt und zwar bis in die Spätphase seines Schaffens hinein. Radulescus Gesamtwerk umfaßt weit über 100 Kompositionen, einschließlich einer stattlichen Anzahl groß besetzter Orchesterwerke.
Visionär in seiner Unbedingtheit, in seinem Künstlertum, war sein Leben monoman allein auf die Musik fixiert. Seine Kritik an vielen leidigen Fehlentwicklungen des Komponierens, aber auch und vor allem am Musikbetrieb, zuweilen wortgewaltig, aber sehr kompetent und hellsichtig, völlig frei von Opportunitäten vorgetragen, stieß, gerade weil er so Recht mit Allem hatte, auf ignorante Ablehnung. Mit Radulescu verliert die Musikwelt einer der letzten universal gebildeten Musiker, Komponisten und Chronisten. Sein Horizont und seine Visionen waren grenzenlos hellsichtig, hierin ähnelte er Walter Benjamin, sein handwerkliches Können und sein Wissen auch über solche Musik, die ihn nicht selbst betraf, waren überragend, seine wichtigsten Schüler, u. a. Eric Tanguy und Diego Minciacchi zeugen in ihrer Verschiedenheit als wichtige internationale Vertreter der jüngeren Generation von der Weite dessen, was er vermittelnd weiter zu geben verstand. Das Kreieren einer Schule, mitunter ein Signet von Personenkult, war ihm ein Greuel.
Am 7. Januar 1942 in Bukarest geboren, studierte er unter anderem bei Stefan Nicolescu und Aurel Stroe Komposition. 1969 geriet er ins Exil nach Paris, wo er 1974 die französische Staatsbürgerschaft annahm. 1970 bis 1972 besuchte er Kurse bei John Cage, György Ligeti, Karlheinz Stockhausen und Jannis Xenakis bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt, zu deren prägenden Figuren er in den 1980ger-Jahren gehörte. Und bei Mauricio Kagel und Luc Ferrari in Köln. Von 1979 bis 1981 studierte er computergestützte Komposition (Algorithmische Komposition) und Psychoakustik am Pariser IRCAM.
1983 gründete er in Paris mit dem Arditti-Quartett, Pierre-Yves Artaud und anderen Musikern das Solistenensemble European Lucero, das seither viele Konzertauftritte in Europa und Nordamerika hatte. 1988/99 war er mit einem Stipendium des DAAD „Composer in Residence“ in Berlin. Von 1989 bis 1990 konnte er dank des französischen Villa Medici-Stipendiums in San Francisco, Venedig und Rom arbeiten. 1991 rief er das Lucero-Festival mit Meisterklassen für Neue Musik ins Leben.
Die Musikwelt trauert um den wichtigsten noch lebenden Spektralisten, Damit verliert eine der wichtigsten ästhetischen Ansätze des zwanzigsten Jahrhunderts viel zu früh ihren führenden Kopf, obschon das künstlerische Potential spektralen Komponierens bei weitem noch nicht ausgeschöpft ist. Davon zeugen seine zahlreichen kompositorischen Pläne, die nun unausgeführt bleiben, vor allem ein groß angelegtes Cellokonzert, welches im Auftrag von Radio France entstehen sollte. Für die Musik ist dieser Verlust unfassbar. Horatiu Radulescu starb mit 66 Jahren viel zu früh, nach langer schwerer Krankheit, am 25. September 2008.