Mülheim/Ruhr - Die legendäre Mailänder Scala und die berühmte Universität lagen für Roberto Ciulli um die Ecke. Doch der Doktor der Philosophie aus großbürgerlichem Hause zog als Gastarbeiter nach Deutschland und landete in Mülheim an der Ruhr. Seit über 30 Jahren ist Ciullis Bühne ein ehemaliges Kurhaus im Ruhrgebiet. Zuhause ist der gebürtige Mailänder aber in der ganzen Welt. Am 1. April wird er 80 Jahre alt - und feiert den Geburtstag natürlich in seinem Theater an der Ruhr, mit seinen Schauspielern und Wegbegleitern.
Theater bedeutet für Ciulli gesellschaftliche Einmischung, Einsatz für verfolgte Minderheiten und Überwindung von Feindbildern. «Wir geben uns nicht mit dem Offensichtlichen zufrieden, wir wollen die Realität dialektisch auf ihre Widersprüche befragen», sagt Ciulli, der über Hegel promovierte. 1980 gründete er gemeinsam mit dem Dramaturgen Helmut Schäfer und dem Bühnenbildner Gralf-Edzard Habben ein hierarchiefreies Theater, in dem heute noch vom Intendanten bis zur Assistenz alle in einem großen Raum gemeinsam arbeiten.
Ciulli zog mit seinem Ensemble schon früh in Länder, die politisch im Abseits lagen. In Bagdad mutete er 2002 noch zu Zeiten Saddam Husseins dem Publikum Peter Handkes «Kaspar» mit einer Nacktszene zu. Oft waren die Mülheimer im internationalen kulturellen Austausch die ersten, etwa bei ihrer Theaterreise durch die Türkei 1987 oder bei ihrer Tournee im ehemaligen Jugoslawien Anfang der 80er Jahre.
Chile, Russland, Ägypten, Algerien, die Seidenstraße mit Usbekistan, Turkmenistan, Kirgistan - überall trat Ciullis Ensemble auf. 1999 reiste es in den Iran und ist dort auch mit revolutionskritischen Stücken zu Gast. «Das Prinzip war immer: Wo finden wir Menschen, die sich fremd im eigenen Land fühlen so wie wir damals, als wir angefangen haben?», sagt Ciulli.
Nach Nordkorea würde er gern noch reisen - und er meint es ernst. Auch für politisch verfolgte Künstler erhebt Ciulli seine Stimme. So setzte er sich 2012 für die Freilassung des inhaftierten regimekritischen kasachischen Regisseurs Bolat Atabajew ein.
Auch in Mülheim schont der Intendant mit den langen grauen Locken das Publikum nicht. 2009 brachte er das als antisemitisch kritisierte Fassbinder-Stück «Der Müll, die Stadt und der Tod» erstmals in Deutschland öffentlich auf die Bühne - und beendete damit einen jahrzehntelangen Kulturkampf.
Ciulli brach schon immer aus althergebrachten Traditionen aus. Mit 26 Jahren gründete er ein Zelttheater am Stadtrand von Mailand, bevor er 1965 als Gastarbeiter nach Deutschland ging und Fabrikarbeiter und Fernfahrer wurde. Politisiert durch die Studentenbewegung in Italien fühlte er sich als Kind einer wohlhabenden Familie in einer reichen Stadt «am falschen Ort geboren, in der falschen Gesellschaft».
Das mag auch an seinen roten Haaren gelegen haben, die er als Kind hatte. «Mein Widerstand gegen diese Welt hat sehr früh angefangen», sagt Ciulli. Er liebt die Rolle des Clowns. «Der Clown ist ein Widerstandskämpfer. Er lässt uns in eine andere Welt eintauchen, indem er die Gesetze der realen Welt infrage stellt.»
Ciullis Theater funktioniert anders als die meisten Bühnen in der Nachbarschaft von Düsseldorf bis Oberhausen. Als städtisches Theater ist der Jahresetat von 4,5 Millionen Euro bescheiden. Das Besondere ist, dass das Theater an der Ruhr ein Drittel des Etats selber erwirtschaftet, etwa durch den Verkauf von Produktionen.
Ciulli holt immer wieder ausländische Ensembles nach Mülheim. Regelmäßig gibt es türkischsprachige Aufführungen, und die Truppe bot dem Roma-Theater Pralipe Asyl. Im November wurde Ciulli als kultureller Brückenbauer mit dem NRW-Staatspreis ausgezeichnet. Dass er nach Mülheim gegangen ist, hat er nie bereut. «Ich hatte immer diesen Gedanken, alles auf den Kopf zu stellen und mir eine verkehrte Welt zu wünschen. Es gibt nicht nur Berlin.»
Dorothea Hülsmeier