Der Chef des Bayerischen Staatsorchesters und des Staatsopernchors, Kent Nagano, verlässt Ende Juli das größte deutsche Opernhaus und wechselt 2015 in gleicher Position an die Hamburgische Staatsoper. Zum Abschied von München bekam der passioniert Surfer von seinem Orchester ein Surfbrett mit den Unterschriften aller Musiker geschenkt. Der Nachrichtenagentur DPA gab er ein Interview.
München - Kent Nagano (61) blättert in einer Partitur. Es ist Wagners «Götterdämmerung», eines der letzten Werke, die er in seiner Funktion als Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper dirigieren wird. Ende Juli verlässt der Kalifornier mit japanischen Wurzeln München, um 2015 in gleicher Funktion an die Hamburgische Staatsoper zu wechseln. Im dpa-Interview blickt er zurück auf sieben Jahre, in denen er das Repertoire der Staatsoper geprägt und weiterentwickelt hat.
Herr Nagano, haben Sie das jüngste Interview mit Bayerns Kunstminister Wolfgang Heubisch gelesen?
Mit Verlaub, nein.
Darin wurde der Minister gefragt, was er sich von Ihrem Nachfolger als Generalmusikdirektor der Staatsoper, Kirill Petrenko, erwartet: Mehr Emotion, war seine Antwort. Sind Sie so ein kühler Kopfmensch?
Das müssen Sie meine Frau fragen. Aber im Ernst: Kunst ohne Emotion geht nicht. Es geht auch nicht ohne Spiritualität und Poesie. Aber natürlich auch nicht ohne einen intellektuellen Prozess. Wir machen ja keine Schönheitsoperation, die nur an der Oberfläche bleibt.
Ein anderes Klischee über Sie lautet, dass Sie vor allem Spezialist fürs Moderne sind.
Wir leben nun mal im 21. Jahrhundert und müssen uns mit der Musik unserer Zeit auseinandersetzen. Wenn wir die große Tradition der klassischen Musik am Leben erhalten wollen, müssen wir auch in die Zukunft investieren. Das Repertoire muss immer die Chance haben zu wachsen. Also habe ich im Interesse eines starken Profils nicht nur einen starken Akzent auf Wagner und Strauss gesetzt, sondern auch auf Opern des 20. und 21. Jahrhunderts. Die deutsche Erstaufführung von George Benjamins Oper «Written on skin» am Dienstag wird hier den Schlusspunkt setzen.
Sie haben vor allem zu Anfang Ihres Münchner Engagements sehr stark die jahrelange Tradition der Staatsoper betont und intensiven Kontakt mit Wolfgang Sawallisch gepflegt. Warum?
Sawallisch, den ich schon länger kannte, hat die Staatsoper mehr als zwei Jahrzehnte geleitet und entscheidend geprägt. Er hat dann, was sehr ungewöhnlich war, jede unserer Premieren, die er im Radio hörte, schriftlich kommentiert. Das war unglaublich generös, wie viel Zeit er sich dafür nahm. Solch eine Beziehung zwischen zwei Dirigenten gibt es nicht oft.
Mozart, neben Wagner und Strauss einer der drei Münchner «Hausgötter», kam bei Ihnen etwas kurz.
Mozart war und ist ein Fundament meines Repertoires. Aber man kann nicht alles machen und schon gar nicht gleichzeitig.
Ihr «Don Giovanni» aus dem Jahre 2009 galt als Flop.
Es gibt in der Geschichte der Musik zahllose Beispiele von Inszenierungen, die am Anfang vielleicht nicht richtig funktionieren. Offensichtlich misst sich heute aber alles am Premierenstatus. Vor Jahren hat man das «Work-in-progress» sehr viel ernster genommen. Dieser «Don Giovanni» (Regie Stephan Kimmig, die Red.) war eine komplizierte Produktion. Es gab elementare Differenzen zwischen der inszenatorischen und der musikalischen Seite, die nicht unbedingt förderlich waren. Außerdem wirkte sich die Gestaltung des Bühnenbildes akustisch sehr unfreundlich aus.
Alban Bergs «Wozzeck» in der Regie von Andreas Kriegenburg, der später dann zusammen mit Ihnen Wagners «Ring» realisierte, wurde dagegen als Sternstunde gewertet.
Die Produktion war ein gutes Beispiel dafür, dass man zwischen dem musikalischen Konzept und dem Konzept des Regisseurs keinen Bruch gespürt hat. Das war eine Einheit, da stimmte alles. Für mich war das eine Überraschung, weil ich das erste Mal mit Kriegenburg zusammenarbeitete und er in Sachen Oper noch nicht so erfahren war. Aber er ist eben ein großer Künstler.
Kriegenburg hatte für seinen «Wozzeck» die ganze Bühne unter Wasser gesetzt und Sie sind beim Schlussapplaus barfuß mit hochgekrempelter Hose darin herumgewatet. Das bringt uns zu der Frage, was sie bewogen hat, sich barfuß im Frack an der berühmten Eisbachwelle im Englischen Garten fotografieren zu lassen?
Mich hat es immer fasziniert, von der Brücke an der Prinzregentenstraße den Surfern auf der Eisbachwelle zuzuschauen. Für mich als Surfer hat eine Welle immer einen Anfang und ein Ende. Aber diese Welle steht, da geht nichts voran. Wie gesagt, faszinierend.
Wann haben Sie das letzte Mal auf dem Brett gestanden?
Vor einem Jahr in Kalifornien. Aber Surfen ist wie Radfahren, das verlernt man nie.
Was werden Sie am meisten vermissen, wenn Sie München verlassen?
Das Bayerische Staatsorchester und den Staatsopernchor. Diese wunderbaren Klangkörper haben ein kollektives Gedächtnis und man hat immer wieder den Eindruck, ja, so und nicht anders, muss etwas klingen. Das ist ein Stück Wahrheit in der Musik. Und ich werde das Publikum vermissen. Dass sich die Leute so stark mit ihrer Oper identifizieren gibt es nicht oft.
Werden Sie auch die Weißwürste vermissen?
Sicher (lacht). Und die Berge. Ich war oft in den Alpen und bin dort gewandert. Mit meiner Familie, aber auch allein. Das ist großes Theater.
Welchen Grund gibt es für einen Münchner, bald mal wieder nach Hamburg zu fahren?
Die Elbphilharmonie.
Glauben Sie wirklich, dass die fertig wird?
Ich hatte in meiner Zeit an der Oper in Lyon Gelegenheit, den früheren französischen Staatspräsidenten François Mitterrand zu sprechen, der ja als Sohn eines Architekten viele große öffentliche Bauten geschaffen hat. Ich fragte ihn, wie er das alles zustande brachte. Darauf antwortete er mir, er war ein weiser Mann: Erstens muss das Projekt einen Nutzen für die Menschen haben. Zweitens muss man zu dem Punkt kommen, an dem es teurer ist, eine Baustelle abzureißen als weiterzubauen.
Ist dieser «point of no return» bei der Elbphilharmonie schon erreicht?
Es ist klar, dieses tolle Haus muss fertig werden. Nach meinem Gefühl - und da bin ich sicher nicht der einzige - wurde nun nach vielen Umwegen die Zielgerade erreicht.
Georg Etscheit
[update, 24.7.:]
Jubel für «Written on skin»
München - Es war seine letzte Premiere als Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper in München: Kent Nagano stand am Dienstagabend bei der deutschen Erstaufführung von «Written on skin» des britischen Komponisten George Benjamin am Pult – und wurde vom Publikum mindestens genau so gefeiert wie der Komponist [
siehe unsere nmzOnline-Rezension]. Ende Juli verlässt der Kalifornier mit japanischen Wurzeln München, um 2015 in gleicher Funktion an die Hamburgische Staatsoper zu wechseln.
Benjamins Oper erzählt eine brutale Geschichte von Liebe, Lust, Gewalt und Selbstbestimmung - in München inszeniert vor einer Kulisse mit der morbiden Ästhetik eines Low-Budget-Horrorfilms: Die junge Agnès ist mit einem reichen Landbesitzer verheiratet, der sich ihr Beschützer nennt und dem an ihr vor allem ihre Reinheit gefällt. Dann fängt sie ein leidenschaftliches Verhältnis mit einem jungen Buchmacher an. Als ihr Mann davon erfährt, tötet er den Geliebten und serviert seiner Gattin sein Herz. Agnès bringt sich um.
Am 31. Juli steht Nagano zum letzte Mal als Chef des Staatsorchesters bei Richard Wagners «Parsifal» am Pult. Sein Nachfolger wird in der kommenden Saison der Russe Kirill Petrenko, der auch den von Frank Castorf inszenierten Jubiläums-«Ring des Nibelungen» in Bayreuth dirigiert.