Karlsruhe - Er ist einer der größten Komponisten der Neuen Musik. Die Vielfalt seiner Werke ist gewaltig. So manches Stück schneiderte er Künstlern geradezu auf den Leib; als Lehrer prägte er viele inzwischen ebenfalls bekannte Komponisten. Nun wird Wolfgang Rihm 70 Jahre alt.
Was für eine Kraft, wie mächtig in ihren Harmonien und dann wieder so zart und niemals behäbig. Die Musik des Komponisten Wolfgang Rihm ist überwältigend, explosiv und ergreifend. Dass Neue Musik von vorneherein eine ungewohnte Zumutung sein könnte - gewiss nicht, nicht bei Rihm. Seine Musik ist so zugänglich wie bewegend, mitunter düster und aggressiv, sehr komplex und sagenhaft vielseitig. Jetzt feiert der Künstler, einer der international gefeiertsten und am häufigsten gespielten Komponisten in der Welt der zeitgenössischen Musik, seinen 70. Geburtstag.
Ein unglaubliches Universum von weit mehr als 500 Werken hat der gebürtige Karlsruher inzwischen komponiert. Ein riesiges Oeuvre, das Opern und große Orchesterwerke ebenso umfasst wie Kammermusik etwa für Violine und Klavier, Konzerte für Trompete, Horn, Cello sowie Musiktheater und Vokalstücke. Er schreibt gern per Hand in sein Skizzenbuch. Etwas zu tippen, mit einem Finger, das liege ihm sowieso nicht, erzählt er am Telefon. Weitere Fragen beantwortet der vielbeschäftigte Komponist handschriftlich. «Gefühlt werde ich schon seit Monaten 70», sagt er, ein wenig amüsiert über den Rummel, den man um seine Person macht.
Schon mit elf macht er, das Wunderkind, die ersten Kompositionsversuche. Später studiert er, noch als Schüler, Komposition an der Hochschule für Musik (HfM) bei Eugen Werner Velte und geht dann nach Köln, um bei Karlheinz Stockhausen zu lernen. Auch Wolfgang Fortner prägt sein späteres Schaffen, ebenso wie Luigi Nono. Rihm saugt alles auf und schreibt und schreibt. 1985 wird er Nachfolger seines einstigen Lehrers Velte als Professor für Komposition an der Karlsruher Musikhochschule HfM.
Seinen Durchbruch feiert Rihm 1974 auf den Donaueschinger Musiktagen mit der Uraufführung des Orchesterstückes «Morphonie». Das sehr kontrovers diskutierte Werk wird zur Legende, schreibt seine Biografin, die Musikjournalistin Eleonore Büning, in ihrem gerade erschienenen Buch «Wolfgang Rihm - Über die Linie». Spätestens jetzt kennt ihn jeder. Heute ist Rihm längst mit Preisen, Ruhm und Bewunderung überhäuft. Buchstäblich jeden Tag wird irgendwo auf der Welt eines seiner Werke gespielt.
Vor Jahren bereits schwer erkrankt, zeigt sich Rihm lange schon mit einem Gehstock, man sieht ihn mit einem um den Hals geschlungenen Schal seine Schüler begrüßen oder Ehrungen entgegennehmen. Bescheiden tritt er auf, sanft, ruhig. Und trotz der Krankheit lebensfroh. «Die Begegnung mit der eigenen Endlichkeit ist mir seit frühester Jugend nichts Fremdes», sagt er. «Musik ist ja selbst ein Phänomen, das vergeht. Jeder Ton vergeht. Jeder Mensch, der Musik schafft, geht mit dem Tod um, der zum Leben gehört.»
Für Rihm ist alles Musik. «Musik ist Leben.» Die Idee, die Inspiration für Kompositionen kommt nach seinen Worten aus der Musik selbst. Gefühle, Ereignisse spielen zwar eine Rolle, jedoch nur insofern, als sie die Geschwindigkeit des Entstehens beeinflussen: «Sie sind nicht die Gegenstände des Entstehens selbst.»
Sein Ruf nicht nur als Komponist, sondern auch als Lehrer ist legendär. «Er strahlt mit seiner beeindruckenden Künstlerpersönlichkeit von Karlsruhe aus in alle Himmelsrichtungen», sagt Ulrich Wagner, Chordirektor am Badischen Staatstheater Karlsruhe. HfM-Rektor Hartmut Höll nennt ihn eine wegbereitende und prägende, aber nie stilistisch einengende Künstlerpersönlichkeit. «Dank seiner unbeirrbaren Eigenständigkeit, seiner schier universalen Bildung und Weltoffenheit erschließt er nicht nur seinen Studierenden, sondern auch einem breiten Publikum neue Horizonte der Musik und verhandelt in seiner Musik existenzielle Fragen des Menschseins.»
Rihm selbst hat zum eigenen Werk ein unprätentiöses Verhältnis, ein sich stets wandelndes. Manchmal sehe er die Qualität eines Stückes deutlich, dann wieder vernehme er nichts. «Es gibt Phasen, wo ich aus eben diesem Grund lange keine eigenen Stücke anhöre.» Überhaupt «definiert» er Musik für sich nicht, «denn ich bin ja an der Arbeit, sie hervorzubringen», sagt er. Jenseits der eigenen Kompositionen bedeute ihm bestehende und entstehende Musik sehr viel: «Schließlich ist sie meine Atmosphäre, die mich mit geistigem Sauerstoff versorgt.»
Zu seinem 70. sind einige Konzerte geplant, coronabedingt wohl längst nicht so viele, wie es sonst der Fall gewesen wäre. Für ihn alles nicht so wichtig. Gerade versuche er, «eine orchestrale Arbeit über ihren Anfang hinauszubringen». Eindringliche Szenen zeigen ihn vor zwei Jahren mit seiner Frau in der SWR-Dokumentation «Das Vermächtnis». Liebe sei wohl der stärkste Beweggrund für Musik, sagt Rihm. «Auch sie ist - wie der Tod - in jedem Ton unendlich vorhanden.»