Bayreuth/Bonn - Jahrzehntelang war sie vor allem die scharfzüngige Widersacherin, die geistreiche Kritikerin, von der einige sagen, sie selbst hätte eigentlich die Herrscherin sein sollen dort oben auf Bayreuths Grünem Hügel. Das wäre Richard Wagners Urenkelin Nike Wagner auch gern geworden - aber sie unterlag 2008 im Rennen um das Amt ihren Cousinen Katharina und Eva.
Aus der Verwandtschaft könne man nicht austreten, hat Nike Wagner einmal gesagt. «Man kann sich nur anderswo Freunde suchen. Und neue Orte.» Und so zog es die Urenkelin von Richard Wagner und die Ururenkelin von Franz Liszt nach einer Kindheit und Jugend in Bayreuth zum Studium nach Berlin, Chicago, Paris und Wien. Bis 2013 leitete sie das Kunstfest Weimar, seit 2014 ist sie Intendantin des Beethovenfestes in Bonn. Doch Bayreuth und die Verwandtschaft blieben die großen Themen ihres Lebens - auch wenn sie kurz vor ihrem 75. Geburtstag im Interview der Deutschen Presse-Agentur sagt: «Um Gotteswillen: Nein.» An der Spitze des Grünen Hügels wolle sie nicht mehr stehen.
Ihr Leben aber hat sie zu einem großen Teil im Schatten dieses Hügels verbracht, als Teil eines weltberühmten Clans. Ihr Vater Wieland Wagner erneuerte gemeinsam mit seinem Bruder Wolfgang die Bayreuther Richard-Wagner-Festspiele und versuchte, den braunen Dunst zu vertreiben, der sich in der Zeit des Nationalsozialismus dort festgesetzt hatte.
Als Wieland 1966 starb, übernahm sein Bruder, Nikes Onkel Wolfgang, die Alleinherrschaft. Der Wieland-Zweig war damit ausgebootet und tat in den Jahrzehnten, die Wolfgang an der Spitze der Festspiele stand, immer wieder kund, was er davon hielt. Nike sollte dabei zur Wortführerin werden. Jahrelang war sie vor allem die scharfzüngige Widersacherin, die geistreiche Kritikerin, von der einige sagen, sie selbst hätte eigentlich die Herrscherin sein sollen dort oben auf Bayreuths Grünem Hügel.
Doch sie fand andere Betätigungsfelder. In Wien promovierte sie über «Karl Kraus und die Erotik der Wiener Moderne». Und in Weimar, einer früheren Wirkungsstätte ihres Ur-Urgroßvater Liszt, übernahm sie die Leitung des Kunstfestes. «Weimar war ein Glücksfall für mich», sagte sie. Die frühere thüringische Ministerpräsidentin Christine Leberknecht (CDU) urteilte 2013, unter Wagners Intendanz habe das Kunstfest und damit das Kulturland Thüringen an Glanz, an Ausstrahlung und an internationalem Renommee gewonnen.
Seit 2014 ist Wagner nun schon die Intendantin des Beethovenfestes in Bonn. Allerdings läuft ihr Vertrag in diesem Jahr aus. Sie sagte, ihr habe Experimentierfreude in der Stadt gefehlt. «Vielleicht ist das Publikum in kleineren Städten harmoniesüchtiger als in den großen, wo mehr Spezialfestivals ihre Nischen finden - auch ist das Ohr träger als das Auge», sagte sie im dpa-Interview. Große Sorgen müsse man sich um die klassische Musik aber nicht machen: «Die Klassik hat ihr Publikum und die Massenekstase war nie ihr Ziel. Überzeugen und Vermitteln allerdings bleibt bitter nötig.»
Die familiären Wogen haben sich inzwischen geglättet. Cousine Katharina, die ihr Amt als Festspielleiterin aus gesundheitlichen Gründen derzeit ruhen lassen muss, sagte im vergangenen Jahr in einem dpa-Interview: «Unser Kontakt ist so, wie es sich für eine Familie gehört und - auch wenn das für manche Medien enttäuschend sein mag - meistens völlig normal, also herzlich und gelöst. Ich bin sehr froh, dass ich in diese einstigen Streitigkeiten ja nie unmittelbar involviert war, und dass auch anerkannt wurde, dass ich nicht beteiligt gewesen bin. Es steht nichts unüberbrückbar Trennendes zwischen uns.»
Um das zu unterstreichen, hatten Nike und Katharina - die beiden Cousinen und Alpha-Frauen ihrer jeweiligen Stämme - für dieses Jahr ein ganz besonderes Projekt geplant: Das Orchester der Festspiele sollte beim Bonner Beethovenfest auftreten. «Ein wunderbar stimmiges joint venture», hätte das werden können, sagt Nike Wagner. «Dass eine Pandemie diese Familienzusammenführung nun verhindert hat, ist traurig, aber ohne höhere Bedeutung.»
Weil das Beethovenfest in diesem Jahr wegen des Coronavirus ausfallen muss, sei sie derzeit damit beschäftigt, die Verschiebung zu organisieren. «Ansonsten tue ich, was die Quarantäne so erlaubt: Luft holen, CDs ordnen, Weltliteratur lesen, mit vernachlässigten Freunden telefonieren.» Ihren Geburtstag will sie nicht groß feiern: «Fernab in Mecklenburg-Vorpommern, bei meiner Tochter und meinen Enkelkindern. Ohne großes Feiern, in der Selbstverständlichkeit des Alltags, in der Nähe des Mobiltelefons.»
Interview der Deutschen Presse-Agentur kurz vor ihrem 75. Geburtstag (9. Juni):
Frage: Als Sie ankündigten, das Beethovenfest zu verlassen, warfen Sie dem Bonner Publikum vor, nicht sonderlich experimentierfreudig zu sein und einen gewissen Hang zu Gemütlichkeit und Mainstream zu haben. Gilt das nicht oft für das Publikum in der Klassikwelt?
Antwort: Gebetsmühlenartig muss es sich die Klassikwelt gefallen lassen, mit einem Seniorenheim verglichen zu werden. Wahr ist nur, dass eine gewisse Kennerschaft der Musik erworben sein will, um den eigenen Genuss zu steigern - bis hin zu Kompositionen der Gegenwart. Zugleich aber tut sich ja viel auf der jungen Seite. Die Nachwuchskünstler schießen ins Kraut, landauf landab gibt es die hochkarätigsten Jugendorchester. Vielleicht ist das Publikum in kleineren Städten harmoniesüchtiger als in den großen, wo mehr Spezialfestivals ihre Nischen finden - auch ist das Ohr träger als das Auge. Im Ganzen aber: keine Sorge, die Klassik hat ihr Publikum und die Massenekstase war nie ihr Ziel. Überzeugen und Vermitteln allerdings bleibt bitter nötig.
Frage: Warum verlassen Sie das Beethovenfest?
Antwort: Es war von Anfang an mitgedacht, dass ich das Beethoven-Jubiläumsjahr 2020 mitgestalten sollte. Das war auch dramaturgisch sinnvoll und eine gute Gelegenheit zu farbenreichem Abschied. Nun hat Corona alles verändert, doch dieses Veranstalter-Schicksal teile ich ja mit vielen, die voller Hoffnung auf das nächste Jahr blicken.
Frage: Was machen Sie denn jetzt stattdessen?
Antwort: Die Verschiebung eines großen Festivals macht sich nicht von allein; es ist ein Trubel von Daten, Terminen, Fakten und Finanzen. Zum Teil müssen wir auch neu denken. Ansonsten tue ich, was die Quarantäne so erlaubt: Luft holen, CDs ordnen, Weltliteratur lesen, mit vernachlässigten Freunden telefonieren. .
Frage: Und wie feiern Sie Ihren Geburtstag?
Antwort: Fernab in Mecklenburg-Vorpommern, bei meiner Tochter und meinen Enkelkindern. Ohne großes Feiern, in der Selbstverständlichkeit des Alltags, in der Nähe des Mobiltelefons.
Frage: Frauen sind an der Spitze von Kultureinrichtungen immer noch in der Unterzahl. Wie lange wird das Ihrer Einschätzung nach noch so sein?
Antwort: Auf Frauen kann man sich verlassen. Derzeit sind sie erfolgreich in der allermännlichsten Domäne angekommen - im Dirigentenfach. Und ich könnte Ihnen ein Dutzend vorzügliche Intendantinnen nennen. Aber insgesamt braucht es Zeit, das Selbstvertrauen der Frauen muss wachsen, von der Falle «Doppelbelastung» zu schweigen. Jede prekäre Wirtschaftslage ist ein Feind wagemutiger Frauen. Aber: sie sind en marche.
Frage: Katharina Wagner hat ihren Vertrag bis 2025 verlängert. Könnten Sie sich vorstellen, in fünf Jahren noch einmal anzutreten?
Antwort: Um Gotteswillen: Nein.
Frage: In Bayreuth herrscht derzeit eine nie dagewesene Situation: Wegen der Krankheit Ihrer Cousine Katharina hält dort derzeit kein Wagner die Zügel in der Hand. Wie sehen Sie das?
Antwort: Es ist Aufgabe der Bayreuther Festspiel-GmbH - vulgo der Geldgeber - in die Zukunft zu sehen.
Frage: Braucht es aus Ihrer Sicht denn auch künftig zwangsläufig eine Wagner an der Spitze der Festspiele?
Antwort: Das fragen Sie mich?
Frage: Wie sehen Sie die Entwicklung der Festspiele in den vergangenen Jahren generell?
Antwort: Ich leite das Beethovenfest Bonn, das Wohlsein anderer Festivals kann ich nicht beurteilen.
Frage: Zur Kooperation zwischen dem Beethovenfest und den Bayreuther Festspielen haben Sie gesagt: «Das schafft nur Beethoven, die wagnerischen Zweige zusammenzubringen.» Warum schafft das nur Beethoven? Und ist dieses Zusammenbringen dauerhaft?
Antwort: Ohne Beethoven kein Wagner. An Hand von Beethoven hat Wagner das Komponieren erlernt, und schließlich hat er sich zu seinem Nachfolger und Vollender stilisiert. Die Neunte Beethovens ist die einzige Musik eines anderen Komponisten, die auf der Bayreuther Bühne gespielt werden darf. Deshalb sollte diese Neunte zum Jubiläumsjahr Beethovens im Festspielhaus erklingen. Und ich bin meiner Cousine Katharina sehr dankbar, dass sie meinen Vorschlag sofort aufgegriffen hat, mit dieser Bayreuther Neunten ein Gastspiel in Bonn zu geben - ein wunderbar stimmiges joint venture. Dass eine Pandemie diese Familienzusammenführung nun verhindert hat, ist traurig, aber ohne höhere Bedeutung.