9. November 1989. Ein kleines Jazzfestival in Berlin, im Filmtheater »Babylon«, nur wenige hundert Meter von der Berliner Mauer entfernt. Günter Heinz hat sein erstes Jazzkonzert mit einer eigenen, von ihm selbst geleiteten Band (»Günter Heinz Quartett«) . »In jener Nacht trafen sich Vorgesehenes und Unvorhersehbares, persönlicher Erfolg und Geschehen von Weltgeschichte«, erinnert sich Günter Heinz.
»Während die Musiker vertrackte melodische und harmonische Wendungen erfanden, die Zuhörer staunten, doch nebenher, manche auch hauptsächlich, den neuesten Meldungen aus mitgebrachten Kofferradios lauschten«, so Heinz, »geschah, was viele gehofft und nur wenige geahnt hatten: die Mauer fiel!« Heinz weiter: »Nach dem Konzert – eigentlich stand noch der amerikanische Pianist Walter Norris auf dem Programm – leerte sich der Saal des Filmtheaters Babylon in wenigen Augenblicken, auf der Bühne spielte noch ein einsames, verlassenes Radio.« Auf diese Weise erfahren Heinz und seine Mitmusiker, was geschehen war. »Doch die Instrumente konnten wir nicht allein lassen. Erst spät nachts, noch nicht begreifend, kam ich nach Hause. Aber es war beeindruckend: Die gesamte Stadt war hell und voller Leben.«
Dieses besondere, einen historischen Wendepunkt akustisch markierende Konzert hat Rigobert Dittmann 2002 in einer dem Bad Alchemy-Magazin 40/2002 beiliegenden Single in Ausschnitten dokumentiert; die Aufnahmen verdeutlichen eindrucksvoll die Spannung jenes Moments.
Seither ist Günter Heinz, dessen Karriere als freiberuflicher Musiker bereits 1987 begann, nachdem er zuvor als promovierter Mathematiker an verschiedenen Universitäten tätig war und improvisierte Musik »nebenher« spielte, als Improvisationskünstler, Komponist und Ensemble-Leiter in ganz Europa und sogar den USA unterwegs. Obwohl er in all den Jahren immer wieder zu seinen Instrumenten Posaune, Flöte und Zurna, einem arabischen Holzblasinstrument mit Doppelrohrblatt, und damit zu »lungengemachter« Musik zurückkehrte, spielte der Einsatz von moderner Elektronik für Heinz zunehmend eine größere Rolle. Damit gehört Günter Heinz zu den nicht allzu vielen Improvisationsmusikern, deren Kunst von einer Balance zwischen akustisch erzeugter und digitaler Musik geprägt ist.
Mathias Bäumel sprach mit dem Künstler über die dessen Werdegang, der exakt am Abend des Mauerfalls seine einmalige Startposition hatte.
Ausgerechnet am Abend des 9. November 1989 hattest Du im Ostberliner Kino Babylon Deinen ersten Auftritt als Chef einer eigenen Band, die zwischen freierem Jazz und Improvisationsmusik agierte. Mit dem Pianisten Jürgen Kurz, dem Klarinettisten Jürgen Kupke, dem Perkussionisten Gottfried Röszler und Dir an der Posaune war das ein nichtelektronisch agierendes Ensemble. Kurze Zeit später, 1992, hattest Du ein Stipendium für einen einjährigen Aufenthalt im Elektronischen Studio Basel. Wie kam es dazu, was zog Dich – plötzlich? – zur Elektronik?
Ja, meine Gruppen Ende der 80er, Anfang der 90er, so das erwähnte Quartett, später auch das alea-Ensemble waren zunächst mit rein akustischen Instrumenten besetzt, ich selbst hatte ja klassische Posaune studiert. In anderen Besetzungen jedoch, so bei Hannes Zerbe, bin ich aber schon damals mit Elektronik in Berührung gekommen. Auch Komponisten wie Helmut Zapf hatten Stücke für mich geschrieben, bei denen Elektronik vorkam.
Ins schweizerische Basel kam ich durch eine Einladung des dortigen Studioleiters Thomas Kessler. Der hatte mich 1991 bei einem Konzert in Luzern gehört und fand meinen Posaunenklang »fast schon elektronisch«. Mein Aufenthalt in der Schweiz wurde dann durch ein Stipendium der Stiftung Kulturfonds ermöglicht. Von dort aus entstanden viele Kontakte und Auftritte, in Moskau, Florida, Malta und Sardinien, ja sogar – einen Kreis schließend – bei einem Schweizer Konzert in der Akademie der Künste in Berlin.
Was ist für Dich das Wesen elektronischer Musik? Gibt es qualitative künstlerische Unterschiede zwischen den Möglichkeiten analoger und digitaler Elektronik?
Bereits bei meinem Posaunenspiel geht es um die Erweiterung des Klangspektrums, also die Erweiterung dessen, was an Klängen möglich ist. Bei elektronischen Instrumenten ist das natürlich noch nahe liegender. Dabei haben analoge und digitale Instrumente einfach unterschiedliche Qualitäten, ohne das man sagen kann, dies ist besser oder jenes. Klanglich galten analoge Geräte lange als »wärmer«, dafür konnte man bei digitalen Klangerzeugern zwischen den »Effekten« schneller wechseln. Mittlerweile kann man die Unterschiede kaum noch bemerken. Es bleiben natürlich noch Vorlieben, ich selbst möchte z.B. die gute alte Hammond – eigentlich kein »elektronisches«, sondern ein elektro-mechanisches Instrument – in gewissen Konzerten nicht missen … Aber digitale Musik bietet auch erweiterte Möglichkeiten des Musizierens im Raum. Die bewegten Positionierungen von Klangquellen im Raum – auch die computergesteuerten von virtuellen Klangquellen im dreidimensionalen Aufführungsraum – spielen eine große Rolle. Natürlich vor allem bei meinen Performance-Projekten.
Hast Du dort in Basel auch Gunnar Kristinsson (Icelandic Sound Company) und Arthur Clay kennengelernt? Mit welchen Folgen? Beide arbeiten ja auch mit Visuellem und im Theater-Kontext …
Ja, beide Komponisten traf ich in Basel, sie waren zur gleichen Zeit wie ich am dortigen Elektronischen Studio. Und noch heute leben sie hauptsächlich dort.
Obwohl sie sehr unterschiedlich sind, hatte und habe ich mit beiden guten Kontakt und viele gemeinsame Konzerte, mit Art Clay z.B. in den Alpen beim Schweizer Tonkünstlerfest, in Victoria BC und aktuell ein Projekt beim Festival Virtuelle Switzerland.
Auf einigen Deiner ersten CDs, so zum Beispiel auf »The Wetware Trombone«, hattest Du – sehr dosiert – auch etwas Elektronik mit genutzt, auf anderen dann nicht. Erst die 1998 aufgenommene CD »Trombone on M.A.R.S.« kann man als konsequente Wiederhinwendung zu Elektronik werten. Hier kooperierst Du als Posaunist mit dem European Powerbook Ensemble. Dieses Ensemble nutzt dabei das italienische System M.A.R.S. (Musical Acoustic Research System), koppelt es mit Macintosh Powerbooks und ermöglicht so Klangtransformationen in Echtzeit. Auf Deiner aktuellen CD unter dem Namen The Wetware Trombone (»akoasma«) spielst Du gemeinsam mit dem Elektroniker Andre Bartetzki, der auch schon 2007 an Deinem Wittgenstein-Projekt beteiligt war. Wie würdest Du Deine Entwicklung zwischen beiden CDs beschreiben?
Auf der CD »The Wetware Trombone – Windharp« von 1993 befinden sich neben Improvisationen mit dem Schlagzeuger Jason Kahn, der später fast ganz zur Elektronik wechselte, auch Kompositionen, die ich im Studio Basel und an der Akademie der Künste in Berlin realisierte. Bei ersteren verwende ich die Elektronik sehr sparsam, bei den anderen Stücken ist sie sehr bestimmend, sowohl im Klang als auch für die Struktur.
Zwischen meinen »elektronischen« CDs erschienen auch immer wieder »akustische«, so mit den Schlagzeugern Lou Grassi und Ernst Bier. Das hat aber nichts mit sogenannten Schaffensphasen zu tun. Eigentlich verfolgte ich beide Spielweisen, die ich auch gar nicht voneinander getrennt sehe, immer parallel.
Der wesentliche Unterschied der späteren elektronischen Produktionen zu den früheren rührt daher, dass ich mich entschieden habe, mich selbst wieder mehr der Posaune zuzuwenden, und den digitalen Part nun »Elektronikern« wie eben Andre Bartetzki zu überlassen – was sich als viel effektiver erwies..
Mit Andre ist die Vertrautheit und die Nähe der Klangvorstellungen so groß, dass ich ihm beim Wittgenstein-Projekt ( 2007 im Festspielhaus Hellerau uraufgeführt) den Part der digitalen Musik ganz überlassen habe, wodurch ich mich auf die szenische Komponente konzentrieren konnte. In diesem Stück ist die Elektronik wichtig als Bindeglied zur dazugehörigen Echtzeit-Video-Kunst von Jo Siamon Salich.
Deine Musik lebt von der Begegnung von Klängen, die sowohl mit mechanischem als auch elektronischem Instrumentarium erzeugt werden. Was reizt Dich an gerade dieser Art von Begegnung? Wenn der Studioleiter Thomas Kessler in Basel sagte, Dein Posaunenspiel klinge schon »elektronisch« – wozu dann noch Elektronik?
Für mich sind mechanisch und elektronisch erzeugte Klänge generell gleichberechtigt und gleich herausfordernd. Dabei interessiert mich tatsächlich am meisten deren Begegnungen und die dadurch entstehenden »Zwischenräume« und Reibungen. Für mein Posaunenspiel bietet die Elektronik Möglichkeiten zusätzlicher Erweiterungen, ähnlich wie die Posaune eine Erweiterung meines Körpers ist.
Eine ganze Reihe von Künstlern – auch Du – verbindet Hörbares mit Sichtbarem, unter Zuhilfenahme von Elektronik entstehen audio-visuell Werke. Wie und wo siehst Du Dich im Vergleich mit anderen Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Elektroakustische Musik (DEGEM), zum Beispiel mit dem auch in Dresden viele Jahre aktiven Wilfried Jentzsch?
Die DEGEM ist eine sehr nützliche Organisation von Komponisten elektronischer Musik, die Musik ihrer Mitglieder sehr vielfältig. Als ich 1996 von Berlin nach Dresden kam, fand ich dort eine sehr reichhaltige Szene vor. Allerdings war mein Kontakt dort stärker zur »freien« als zur »akademischen« Szene. Besonders wichtig war und ist für mich die Zusammenarbeit mit Hartmut Dorschner und mit Künstlern aus dem Umfeld der Blauen Fabrik, wie zum Beispiel die Tänzerin Hanne Wandtke und der Videokünstler Jo Siamon Salich. Auch Scotty Böttcher sei an dieser Stelle erwähnt. Warum nur wenige Kontakte zum Studion für Elektronische Musik der Dresdner Musikhochschule entstanden, kann ich mir selbst nicht so recht erklären. Vielleicht einfach deshalb, weil ich in der Zusammenarbeit mit Hartmut Dorschner bereits all meine Bedürfnisse befriedigt fand. In den Jahren zuvor in Berlin gab es mehr Wechselwirkungen zwischen »freier« und »akademischer« Szene. Klar: Da waren ja auch Leute wie Georg Katzer, Lothar Voigtländer und Helmut Zapf aktiv.
Sicher hat Dir die Zusammenarbeit mit Eric und Mary Ross, zwei Pioniere der audio-visuellen Elektronik-Kunst aus den USA, einiges gegeben, oder?
Auf jeden Fall! Klar ist, dass ich mich mit den beiden – Mary, weltbekannte Vorreiterin der digitalen Fotokunst, ist leider 2012 verstorben – persönlich und künstlerisch stark verbunden fühle, auch durch einen ähnlichen multimedialen Ansatz in der Performance, und nicht zuletzt durch Ähnlichkeiten der Klangspektren bei Posaune und Theremin.
Zurück zu Deinem aktuellen Werk, der CD »Akoasma«. Der Titelname verweist auf »akustische Halluzinationen« bei Menschen mit psychischen Störungen. Etwas irritierend, oder?
Der Titel ist irritierend und sicher auch die Musik. Vorschnell könnte man dabei versuchen, Störungen »aufzudecken«. Wir jedoch gingen bei der Titelwahl nicht von »krankhaften« Zuständen aus, sondern von der ursprünglichen Bedeutung dieses Begriffs als »Gehör« und assoziieren unsere Klänge mit elementaren Geräuschen, wie etwa Rauschen, Zischen, Trommeln, Bellen, auch Glockengeläut und Orgeltöne, in durchaus produktiven akustischen Halluzinationen. Für uns bewirkte diese Irritation Bewegung im Denken und Fühlen, und letztendlich Freude. Wir hoffen, dass auch unsere Zuhörer diesem Weg folgen.
Als vor etwa zwanzig Jahren George Lewis mit seiner CD »Voyager« seine interaktive Computer-Posaunen-Musikkomposition veröffentlichte, schien das vielen Musikfreunden ein Meilenstein zu sein. Fühlst Du ästhetische Verbindungen zum Posaunenspiel und zur Elektronik von George Lewis?
Das Posaunenspiel von George ist phantastisch! Insgesamt fühle ich mich aber mehr in der Nähe von Vinko Globokar. Auch die Elektronik setze ich anders ein, vielleicht direkter und eigenständiger, nicht so »orchestral«. George Lewis ist sehr stark vom amerikanischen Jazz geprägt, vielleicht auch von der Bigband, die er durch Elektronik ersetzen will, so scheint es mir. Vinko Globokar hat seine Wurzeln mehr in der Neuen Musik Europas, die verbunden ist mit Namen wie Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez, Luciano Berio, Iannis Xenakis oder Henri Pousseur.
Vor etwa 25 Jahren, am 15. Oktober 1989, hattest Du gemeinsam mit Künstlern wie Stephan Hermlin, Christa Wolf und Christoph Hein und Hunderten von Theaterleuten in der Erlöserkirche in Berlin an der Vorbereitung der Großdemonstration für den 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz teilgenommen. Nur kurze Zeit darauf, am 9. November, fiel die Mauer – für Dich, wie eingangs dargestellt, in ganz besonderer Weise.
Für mich eröffneten sich durch den Mauerfall viele neue Wege und Möglichkeiten, sowohl künstlerisch als auch persönlich. Einer meiner musikalischen Wegbegleiter ist der Erlanger Pianist und Organist Klaus Treuheit. Seit 2004 konzertieren wir gemeinsam. Ein Höhepunkt unserer Duo-Arbeit war sicherlich unser Konzert 2011 in der Reihe »Unerhört!« in der Wuppertaler Sophienkirche. In diesen Oktobertagen, etwa ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall, spielten wir zwei Konzerte »Against the Walls«, in Freiberg und in Dresden. Und zufälligerweise auch wie das Konzert am 9. November 1989 im Berliner Babylon – ganz ohne Elektronik.
Mathias Bäumel