London - Der Avantgarde-Rock-Pionier dominierte die frühen Alben der Kultband Velvet Underground. Er verschob die Grenzen von Sound immer weiter und beeinflusste Generationen von Künstlern mit seiner vielseitigen experimentellen Musik. Nun wird John Cale 75.
«Ich war ein ziemlicher Rebell», beschreibt John Cale sein junges Selbst. 1977 schockte er seine Bandkollegen - vegetarische Punks -, als er mitten im Auftritt einem Huhn den Kopf abhackte und ins leder- und kettentragende Publikum warf. Die Besucher würgte es. «Das war der effektivste Show-Stopper, der mir je eingefallen ist», schreibt er amüsiert in seiner Autobiographie.
Daran hat sich nichts geändert: Als Prinz Charles den 68-Jährigen im Buckingham Palace auszeichnete, färbte Cale seine weißen Haare knallpink und blau. Der Meister der experimentellen Musik feiert am Donnerstag (9. März) seinen 75. Geburtstag und am Sonntag (12. März) die 50jährige Veröffentlichung des Meisterwerks «Velvet Underground & Nico».
Das Plattencover zeigt Andy Warhols ikonischen Druck einer schwarz-gelben Banane auf weißem Grund. Es ist das erste Album der Band «Velvet Underground», gegründet von John Cale (Bratsche, Keyboards) und Lou Reed (Gesang, Gitarre). Nicos leidenschaftslose Altstimme und Lou Reeds Sprechgesang erzählen Geschichten von sozialer Entfremdung, Sex, Heroin und Masochismus. Das Album floppt, aber die einmalige Mischung inspiriert ganze Genres. «Wir waren eine unfreundliche Marke und dilettierten in einer Welt von herausfordernden Texten und seltsamen Geräuschen, die damals in keine Playlist passte», schreibt Cale.
Die beiden Bandgründer kommen nicht miteinander aus. Cale drängt es zur Avantgarde, Reed will Erfolg, und Nico steht zwischen ihnen. Die Trennung nach nur drei Jahren ist schmerzhaft und verfolgt beide Männer noch lange.
Doch Jahrzehnte später bekannte Cale in einem Interview von Channel 4, dass er niemals wirklich über Reeds Tod (2013) hinwegkommen werde: «Er hatte einen besonderen Platz in der Musik und in meiner Entwicklung.»
Cale wurde 1942 im Kohlendorf Garnant in Wales geboren. Die walisische Mutter bestand darauf, dass er erst mit sieben Jahren Englisch, die Sprache seines Vaters, lernte. In einem Interview des «Guardian» reflektierte Cale über die verstörende Familiendynamik: «Musik wurde eine sehr verlockende Sprache für mich, weil ich mit Menschen kommunizieren konnte, ohne etwas auf Englisch oder Walisisch zu sagen.»
Mit zwölf wurde er von seinem Musiklehrer auf der Orgelempore in der Kirche sexuell belästigt. Doch Musik ist sein Ausweg: Er lernt Bratsche zu spielen, weil alle anderen Instrumente im Orchester bereits vergeben sind. «Es war, als wäre es mein Lebenswerk, die Bratsche vor sich selbst zu retten», sagte er dem «Telegraph».
Ein Leonard-Bernstein-Stipendium brachte ihn 1963 nach Downtown Manhattan, damals eine Brutstätte für experimentelle Musiker, die in ihre Stücke die Dissonanz und Atonalität des Stadtlebens einbauen: Fluxus-Komponisten wie John Cage und La Monte Young beeinflussen sein gesamtes Werk.
Nach den intensiven Jahren mit Velvet Underground veröffentlichte er ein Album nach dem anderen. Seine 1973er Platte «Paris 1919» ist das bekannteste seiner 16 Soloalben, aber eigentlich ein melodischer Ausrutscher - und genau deshalb kommerziell erfolgreich. Cale produzierte die Debütalben von Patti Smith, der Stooges und der Happy Mondays und arbeitete mit Brian Eno und Nick Drake.
Er kokste sich durch die 1970er. Als seine Tochter Eden 1985 geboren wurde, gab er Drogen auf: «Das ist die Magie, ein Kind zu haben. Ich begann mich um mich selbst zu kümmern.» Zwölf Jahre später ließen sich Cale und seine dritte Frau scheiden, und natürlich fließe das in seine Musik ein, sagte er dem «Guardian»; in vielen seiner Songs gehe es um Sehnsucht und Trennung. «Es gibt ein Lied von mir namens «Gravel Drive» über meine Tochter und mich, darüber dass ich dauernd weggehe und auftrete, und sie wartet darauf, dass ich zurückkomme.»
Seit einigen Jahren legt Cale seine früheren Werke neu auf, schafft seine eigene Retrospektive. «Mir ging es damals nicht besonders gut, und es war wichtig, mich zu verändern und die Leute um mich herum», sagte er der Rockzeitschrift «Uncut» über sein früheres klaustrophobisches Album «Music For A New Society». Im vergangenen Jahr veröffentlichte er eine futuristische Interpretation davon als «M: FANS». Eine Art musikalischer Exorzismus: «Es war Zeit, die Verzweiflung von 1981 zu verringern und neue Energie zu atmen, Geschichte neu zu schreiben.»
Am 26. Mai feiert John Cale mit einem Konzert in Liverpool den 50. Jahrestag des Albums «Velvet Underground & Nico».