Das Image des Streichquartetts ist seit jeher gespalten. War es als Diskurs gleichberechtigter „Vernünftiger“ zunächst ein aufklärerisch-demokratisches Modell intensiver musikalischer Kommunikation, so wurde das Genre später zum Inbegriff kammermusikalischer Intimität, ja, zumal in Deutschland, bildungsbürgerlich elitärer Kunst-Erhabenheit. Wer bevorzugt Quartett spielte oder hörte, setzte sich ab von der „Masse“ derer, die es lieber mit zirzensischer Virtuosität, spätromantischem Orchester-Schwall und opulent-kulinarischem Opern-Applomb hielten. Bei Kammermusik-Abenden traf man denn auch in der Regel auf ein eher älteres, gewiss kenntnisreiches, aber auch konservativ abgeschottetes Publikum. Gleichzeitig war das Quartett aber auch die Experimentier-Kammer der Komponisten – von Beethoven über Bartók und die Wiener Schule bis zu Ligeti, Nono, Lachenmann und Ferneyhough.
Entsprechend hat sich das Bild gewandelt: Nicht nur gibt es eine Vielzahl exzellenter jüngerer Ensembles, im klassisch-romantischen Standard-Repertoire ebenso firm wie auf Neues erpicht. Ähnliches gilt für die Hörer. Dass Komponieren, Interpretieren und Aufnehmen solch interaktive Dynamik entfalteten, ist auch einem herausragenden Musiker zu verdanken, der als visionärer Aufrührer wie pädagogische Vaterfigur Geschichte mitgeschrieben hat: Walter Levin. 1924 in Berlin geboren, emigrierte 1938 nach Palästina. An der New Yorker Juilliard School gründete er 1949 das LaSalle String Quartet, das er bis zu dessen Auflösung Ende 1987 als Primarius und spiritus rector leitete. Der Name verdankt sich übrigens einem Zufall: Robert Mann, Primarius des Juilliard-Quartet, das die Newcomer förderte, blickte, um Rat gefragt, aus dem Fenster und sah das Schild „LaSalle-Street“. Das war’s. Residiert hat das Quartett in Cincinnati. Später hat Levin die Bannflüche Adornos (dessen Toscanini-Verachtung und Furtwängler-Verehrung er attackierte) auf die US-Kulturindustrie relativiert: In keinem anderen Land hätten solche, der Moderne verpflichteten Ensembles so reüssieren können.
Ab der ersten Europa-Tournee 1954 festigte sich der Ruf exemplarischer Teilhabe an der Moderne, voraus- wie rückwirkend, ja im Kreislauf kompositorischer wie interpretatorischer Innovation: Neuartige Spieltechniken forderten die Komponisten, wurden aber auch von den Musikern entwickelt – bis hin zur quasi Ununterscheidbarkeit von Henne und Ei. Die Kontarsky-Klavierbrüder, der Cellist Siegfried Palm haben unerhörte Werke erst ermöglicht, wurden gleichzeitig durch diese herausgefordert. Hierin wirkte auch das LaSalle Quartet als Schwungrad, das Visionen materialisieren half, ästhetische Umschwünge initiierte. Pendereckis Quartett definierte Klang und Spiel der Streicher elementar neu zum Geräuschhaften, ja Perkussiven hin. Und Lutoslawskis Werk machte die so freie wie „gelenkte“ Aleatorik eminent fruchtbar. Vollends Ligetis zweites Quartett exponierte nicht mehr nur Klangflächen und Mikropolyphonie, sondern nahm mit mobilen metrischen Rastern Steve Reichs „minimal music“ vorweg. Bei jeder Uraufführung hatte man den Eindruck , einer unerwarteten Wendung beizuwohnen, wahrhaft Unerhörtem zu begegnen.
Sogar eine Art „Kehre“ brachte 1980 das Quartett Luigi Nonos, das ohne politischen Appell, doch mit Mikro-Intervallen, leisesten Klang-Geräusch-Veränderungen und stillstellenden Pausen fast mystische Räume eröffnete. Dabei hatten die glorreichen Vier nichts von aufgesetzter Avantgarde-, gar Bürgerschreck-Attitüde: Hochkonzentriert, sensibel, radikal in den Ansprüchen widmeten sie sich den Mutationen der altehrwürdigen Gattung: ein Muster an progressiver Seriosität, das Mauricio Kagel reizte, die Ensemble-Qualität als auch ironisches Porträt instrumentaltheatralisch auszukomponieren. Gerade in solch sachbesessener Akribie entfaltete sich Kagels burleske Parterre-Komik verblüffend filmreif. Rein akustisch war dies nicht festzuhalten.
Die Erfahrungen mit dem Allerneuesten wirkten auch auf Beethoven zurück. Mit ihrem sowohl belebten als auch transparenten, zugleich grell-schroffen Zugriff machten Levin und die LaSalles vor allem bei den späten Quartetten die Parameter von Dynamik und Klangfarbe als Hegelsche „Entfaltung der Wahrheit“ erfahrbar. Zu den Großtaten zählt nicht minder die auch editorisch mustergültige DG-Kassette mit sämtlichen Quartetten der Schönberg-Schule.
Walter Levin, der seine immense Erfahrung auch unterrichtend generationsübergreifend nachhaltig weitergegeben hat, ist am 4. August, zweiundneunzigjährig, in Chicago gestorben.