Titel wie die „Albert-Mangelsdorff-Rolle“, „Mikis Theodorakis. Komponist“, „Frank Zappa: Phase II - The Big Note“, „Einklang - 2 Brüder. Die Welt von Bernard & François Baschet“ (Instrumentenbauer) oder „The Passenger“ (zur Auschwitzoper von Mieczysław Weinberg) geben eine vage Vorstellung davon, welches facettenreiche Spektrum beim Musik-Film-Marathon vom 28. März bis 10. April 2011 in Berlin zu sehen war. In der Kurbel, seit 1935 das erste Tonfilmkino in Berlin, wurden etwa 40 Filme, vor allem Produktionen zu Jazz und Klassik, gezeigt. Ein Rahmenprogramm mit Diskussionspanels und einem Vokalworkshop von Phil Minton ergänzten dieses ambitionierte Projekt. Hans-Dieter Grünefeld sprach mit der Initiatorin Helma Schleif.
nmz-online: Welche Absicht und welche Konzeption war mit dem Musik-Film-Marathon verbunden?
Helma Schleif: Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen Künsten sind Teil ihrer Entstehungsgeschichte. Musikfilme, heißt es einerseits, erleben eine Renaissance; andere sagen: Musikfilme haben es seit jeher schwer. So widersprüchlich die Aussagen und Meinungen vieler Experten zum Thema Musikfilm oftmals sind, so vielgestaltig, umfangreich und vor allem kontinuierlich ist das Schaffen derer, die ihre Arbeit der Visualisierung von Musik bzw. der Musikalisierung eines Filmstoffs widmen. In den letzten Jahren sind diverse Musikfilmfestivals entstanden, in Hamburg, Wien, Graz, Bern, Oberaudorf, Barcelona, Prag und Krakau - von Südkorea und den USA ganz zu schweigen.
Ich wollte im Unterschied zu diesen Festivals eine exemplarische Auswahl von künstlerischen Musikfilmen zeigen, die Geschichte geschrieben haben und inzwischen zu ´Klassikern´ geworden sind, aber auch neuere und ganz neue Arbeiten (zahlreiche in Erstaufführung), die meiner Ansicht nach die Qualität haben, das Genre weiterzuentwickeln und bisher nur Eingeweihten als ´Geheimtipp´ bekannt sind. Dieser Kanon des künstlerischen Musikfilms umfaßt Produktionen aus 60 Jahren und sollte interessierten Nachspielern künftig zur Verfügung stehen.
nmz-online: Welche Funktion hatten die öffentlichen Panels?
Helma Schleif: Zu einigen Aufführungen wurden RegisseurInnen eingeladen, die ihre Arbeiten selbst präsentierten. Die Panels wurden mit Filmschaffenden und Autoren besetzt, die ihre Erfahrungen und Forderungen an den zeitgenössischen künstlerischen Musikfilm einbrachten.
Workshop & Abschlusskonzert
nmz-online: Warum haben Sie in dieses Festival einen Vokalworkshop integriert?
Helma Schleif: Der englische Vokalist Phil Minton, ein phänomenaler Stimmakrobat mit einer über viele Jahrzehnte entwickelten, unverwechselbaren Klangsprache, wurde eingeladen, einen Stimm-Workshop zu leiten, dessen Ergebnisse konzertant vorgestellt wurden. Seit über 20 Jahren führt er das Seminarprojekt ´Feral Choir´ (ungezähmter, wilder Chor) durch: in London, Cardiff, Aberystwyth, Bristol, Oxford, Brugge, Antwerpen, Ghent, Le Man, Rotterdam, Amsterdam, Nancy, Poitiers, Vandoeuvre, Paris, Straßburg, Pau, Brest, Lausanne, Zürich, Bologna, Florenz, Bologna, Tokyo, Sao Paulo, Rio de Janeiro, Melbourne, Baltimore, Oakland, u.a. Seine Anfänge nahm dieses Projekt Ende der 80er Jahre, als Phil Minton gebeten wurde, einige Workshops mit Nicht-Sängern im Musikzentrum Stockholm zu entwickeln. Der unerwartete Erfolg ermutigte Minton, diese Idee weiterzuentwickeln: Jede und jeder kann mitmachen, Jugendliche und Erwachsene, die Freude an freier Musik, am Experimentieren und Improvisieren haben, die offen, spontan und teamorientiert sind. Phil Minton sagt dazu: „Meine Erfahrung aus der Arbeit mit professionellen und nicht-professionellen Sängern, von denen manche glauben, sie können nicht singen, hat mir gezeigt, dass die menschliche Stimme viel mehr vermag als gemeinhin angenommen wird. In meinen Workshops lernen die Teilnehmer, dass jeder, der atmet, auch Klänge produzieren kann, die einen positiven ästhetischen Beitrag zur conditio humana leisten, und dass diese Klänge nicht an die kulturelle Herkunft gebunden sind."
Dieser Dreiklang von Filme sehen, über Filme reden und die praktische Arbeit an der Musik (Workshop) war konstitutiv für den Musik-Film-Marathon. Ich vertrete die Meinung, daß die praktische Arbeit an der Musik geeignet ist, Hör- & Sehgewohnheiten langfristig zu verändern bzw. zu erweitern und ein tieferes Verständnis für diese Medien zu entwickeln.
Augen- und Ohrenöffner
nmz-online: Sie hatten Filme aus dem klassischen und Jazz-Bereich im Programm. Welche Kriterien waren bei der Auswahl relevant?
Helma Schleif: Entstanden in Deutschland, Europa, Afrika, Indien, Lateinamerika und den USA reflektierten diese Filme die Entwicklung der modernen Filmsprache ebenso wie die alle Genre umfassende Arbeit an der Musik, ihre Entstehungsbedingungen und ihre Wirkungsgeschichte. Ausgewählt wurden Filme, deren visuelle Gestaltung ganz auf der Höhe der dargestellten Musik war.
nmz-online: Welche Funktion könnte das Medium Musikfilm bei der Rezeption von Musik generell haben?
Helma Schleif: Als Augen- und Ohrenöffner.
nmz-online: Wird es einen weiteren Musik-Film-Marathon geben?
Helma Schleif: Im Juli 2011 weiß ich mehr...