Nicolas Schalz kam ursprünglich aus Fouhren in Luxemburg, aus sogenannten einfachen Verhältnissen und einem eher katholisch-engen Ambiente. Sein Vater war während des faschistischen deutschen Überfalls und der Besetzung des Landes Widerstandskämpfer und im KZ gewesen – und überlebte. Bei einer Exkursion in sein Geburtsland zeigte uns Nico einmal, wo er als Kind Erschießungen beobachtet hatte.
Zum Studium ging er dann nach Deutschland und studierte in Frankfurt Religionsphilosophie, Germanistik und Musikwissenschaft; an Adornos letzten Vorlesungen nahm er noch teil. Als gläubiger Katholik hatte er seine Doktorarbeit über Messkompositionen verfasst und sich dann quer durch die Musikgeschichte gefräst, bis er mit einem Schwerpunkt seiner Arbeit in der Moderne, bei der Neuen Musik landete. 1977 siedelte er mit seiner Frau und den drei Kindern aus Frankfurt, dem Sitz der Hochfinanz und einer der Hochburgen der Studentenbewegung, ins sozialdemokratisch, evangelisch, recht liberal geprägte Bremen um.
Genuiner Unterrichtsstil
Legendär seine Musikgeschichtsvorlesungen, damals noch am Konservatorium, in denen er den Studenten die Musikgeschichte verlebendigte. Das ist keine Metapher, sondern Ausdruck seines genuinen Unterrichtsstils. Bewaffnet mit einer Tchibotasche voller Platten hielt er am Freitag morgen von 9 bis 11 Uhr seine Vorlesung mit anschließendem Seminar. Mit Verve und überschäumender Energie erzählte er, sang Stimmen aus Partituren vor und war offensichtlich in seinem Element als Vermittler, Zusammenfasser und Spurensucher von Entwicklungslinien quer durch die Jahrhunderte. In den angefügten Seminaren wurden die Themen vertieft, wurden sie analytischer und philosophischer behandelt. Manchmal bekam man Angst um ihn, weil er bis zur Erschöpfung arbeiten konnte. Mit diesem hohen Einsatz hat er mehrere Studentengenerationen beeinflusst, versucht, diese neugierig zu machen und sich bemüht, auch die Studenten der Universität in die Veranstaltungen mit hinein zu ziehen - an der Universität gab es damals keine Musikgeschichtsseminare oder -vorlesungen.
Als das Konservatorium aufgelöst und Teil der Hochschule für Künste (Musik und Kunst) wurde, begannen die gemeinsamen Seminare und Projekte mit seinem Kollegen Peter Rautmann aus der Kunstwissenschaft. Der Blickwinkel wurde breiter, das Hören in umfassendere ästhetische Belange eingebunden. Aus dieser Zusammenarbeit entstand das von Walter Benjamins Passagenwerk ausgehende, umfangreiche Buch „Passagen – Kreuz- und Quergänge durch die Moderne“ (erschienen bei ConBrio), ein Projekt, das sieben Jahre dauern sollte und ihn an den Rand der Belastbarkeit brachte. Es war nicht nur ein Buch, sondern im Vorlauf wurden Ausstellungen, Konzerte, Symposien in Paris, Berlin, Bremen und anderen Städten entwickelt. Die Arbeit an und mit Benjamins Ästhetik war für Nicos Persönlichkeit ideal, denn das sowohl marxistisch wie auch transzendent-messianische fasste zwei ihn stark antreibende Elemente: das freigeistig-Religiöse, wie das sozial-gesellschaftlich Diesseitige, in das auch die Musik von ihm eingebunden wurde. Materialistische Bedingungen und Voraussetzungen, wie den Eigensinn der Sphäre ästhetischer Arbeit, dachte er zusammen. Das spiegelte sich auch in seiner Mitarbeit beim katholischen Lehrhaus und der von der Gegenwart angetriebenen Arbeit der projektgruppe neue musik bremen wider, die er und seine Frau Ute 1989 initiierten.
Anstrengend, aber produktiv
Eher intuitiv politisch und vom guten Willen getrieben, war er ein wohlwollender, freundlicher, manchmal zu harmoniebedachter Mensch. Seine Kinder sprachen treffend und gern von „Liebesverträgen“, die er abschloss. Die Konstellation aus freigeistig-religiös-philosophischer Anschauung, gegenwartsbezogener, sozio-politischer Fokussierung, prägenden Kindheitserlebnissen und Freundlichkeit machte das Leben für ihn und die ihm Nahestehenden anstrengend, facettenreich und produktiv.
Zum Schluss sei mir eine kurze persönliche Bemerkung verziehen. Beim erneuten Durchblättern und Querlesen seines oben erwähnten Buches gab es ganz am Schluss zwischen den Autoren Rautmann/Schalz und den Mitarbeitern einen kurzen Briefwechsel. Am Schluss bedankt er sich mit zart-bezaubernder Schlichtheit und schließt – und das waren seine letzten Worte in dem Buch – mit: „Danke nochmals dafür, daß du uns die ganze lange Schreib-Zeit hindurch kritisch bei der Stange gehalten hast. Liebe Grüße“. Ja, Nico, liebe Grüße zurück und auch dir sei von Herzen gedankt.
Nicolas Schalz, geboren am 1. April 1938 in Fouhren (Luxemburg), gestorben am 3. September 2020 in Bremen. Foto: Martin Hufner