Damals, vor zwölf Jahren, war das geradezu eine Provokation: während fast überall das Musikleben immer mehr auf Event, gängiges „name dropping“ und Wiederholung des Immergleichen schrumpfte, verpflichtete das Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg des Südwestrundfunks gleich drei Dirigenten, deren Namen eng mit dem Engagement für die Musik der Gegenwart verbunden sind: Sylvain Cambreling, Michael Gielen und Hans Zender. Cambreling wurde als Nachfolger Gielens Chefdirigent, Gielen selbst und Zender wurden zu ständigen Gastdirigenten gewählt. Idealer konnte die Konstellation für ein Rundfunksinfonieorchester nicht sein, vorausgesetzt, das Orchester einer Rundfunkanstalt nimmt seinen Kulturauftrag noch ernst: außer den Werken der Musikgeschichte auch und besonders das Schaffen der Moderne zu fördern, die mit Mahler beginnen mag und über Schönberg und die Zweite Wiener Schule bis in die Nachkriegszeit zu Boulez oder Stockhausen und die Darmstädter Schule und dann bis in die unmittelbare Gegenwart bis nach Donaueschingen führt.
Sylvain Cambreling, 1948 in Amiens geboren, trat beim SWR-Sinfonieorchester in eine berühmte Namensfolge ein: Hans Rosbaud, Ernest Bour und Michael Gielen hatten das Ensemble zum Meisterinstrument der Neuen Musik geformt. Cambreling setzte diese „Ahnenreihe“ würdig fort. Seine Kompetenz für die Neue Musik stand nie in Frage. Wer ein Jahrzehnt, von Boulez geholt, das Pariser Ensemble intercontemporain leitete, wer das Wiener Klangforum zu einem Spitzenensemble der Avantgarde emporführte, der braucht seine Fachkompetenz nicht zu beweisen.
Sylvain Cambreling nur auf die Neue Musik festzulegen, wäre ein kompletter Irrtum. Als Brüsseler Musikdirektor katapultierte er gemeinsam mit dem Intendanten Gerard Mortier das Théâtre de la Monnaie in die Spitzengruppe europäischer Musikbühnen. Die Brüsseler Mozart-Spitzen wurden so berühmt, dass sie Mortier den Ruf in die Mozart-Stadt Salzburg einbrachten, für zehn Jahre als künstlerischer Direktor. Cambreling wagte sich derweilen in das Frankfurter Opernchaos der 90er-Jahre, trotzte dem derangierten Betrieb gleichwohl mehrere großartige Inszenierungen ab. Debussys „Pelléas et Mélisande“ in Christoph Marthalers genialer szenischer Umsetzung, Alban Bergs „Wozzeck“ oder Verdis „Simone Boccanegra“, alle von Cambreling dirigiert, haften auch als musikalische Sternstunden im Gedächtnis. Als Gerard Mortier als Chef an die Pariser Opéra National ging, stand Cambreling als Gastdirigent bei zahlreichen Premieren am Pult. Seine „Wozzeck“-Interpretation mit dem, wenn es denn will, fulminanten Pariser Opernorchester geriet geradezu sensationell: in der analytischen Durchdringung der komplexen Partitur mit ihrem reichen Formenkanon, in der expressiven klanglichen Verdichtung bei gleichzeitiger Transparenz des Klangsbildes war dieser „Wozzeck“ ebenso beispielhaft wie beispiellos.
Aus allem ist zu erkennen, dass Sylvain Cambrelings Engagement für das SWR-Sinfonieorchester die beste aller Möglichkeiten war – vor allem für das Orchester selbst. Bei Cambrelings Repertoirebreite war eine etwaige Verengung der Perspektiven nicht ausgeschlossen. Das Orchester exzellierte nicht nur bei der Moderne, sondern wartete auch im klassisch-romantischen Repertoire immer wieder mit hochstehenden Interpretationen auf. Dabei standen auch Gielen und Zender an Cambrelings Seite. Gielens Mahler-Darstellungen sind inzwischen legendär. Dass Cambreling in seinen Konzerten, mehr als bis dahin gewohnt, eine kräftige französische Note mitgab, wirkte belebend. Olivier Messiaens „François d‘Assise“ erfuhr eine Wiedergabe, die an Transparenz des Klangbildes, an Tonschönheit, an spiritueller Überhöhung nicht zu übertreffen sein dürfte. Mit Messiaens „Oper“ werden Cambreling und das Orchester beim letzten Auftritt des Dirigenten demnächst noch in Madrid gastieren, wo Gerard Mortier seit Beginn der jetzt ablaufenden Saison das Opernhaus leitet.
Mit Gerard Mortier verbindet Sylvain Cambreling eine jahrzehntelange Freundschaft. Und so traf man jetzt in Baden-Baden inmitten eines hochgestimmten Festspielpublikums auch Gerard Mortier beim heimischen Cambreling-Finale mit dem Orchester. Auf dem Programm: Beethovens „Neunte“ – aber Cambreling wäre nicht Cambreling, wenn er sich auf eine bei diesem Werk stets drohende musikalische Erbauungsstunde eingelassen hätte. Arnold Schönbergs kurzes Oratorium „Ein Überlebender aus Warschau“ –im englischen Originaltext „A Survivor from Warsaw“ – stand als zweites Werk auf dem Programm, nicht als Solo-Nummer, sondern eng verknüpft mit der Beethoven-Sinfonie. Es war Cambrelings Vorgänger Michael Gielen, der diese Kombination – man könnte auch sagen: Konfrontation – in seiner Frankfurter Zeit initiierte. Cambreling entschied sich für eine etwas andere „Dramaturgie“ für den Ablauf: an die durchgehend gespielten vier Sätze mit dem Chorfinale schloss sich unmittelbar ohne Pause das Schönberg-Werk an, auf das ebenso „attacca“ noch einmal die letzten vierzig Takte der „Neunten“ folgten. Die Wirkung war bestürzend, und Sylvain Cambreling schien einen persönlichen Schmerz, eine äußerste Heftigkeit des Gefühls in diese Schlusstakte hineinzulegen.
Der Blick auf Schönbergs uns unverändert bedrängenden „Überlebenden“ wirkte zugleich auf die anderen Sätze der Sinfonie zurück. Eine leise, pochende Unruhe durchströmte das weitgespannte Adagio, der Kopfsatz schien wie „zur Form“ gezwungen, das Molto vivace klang wie eine fast gespenstische Heiterkeit - vom Orchester grandios gespielt.
Beethovens geheime Gedanken über die menschliche Existenz, seine Zweifel an einer Utopie, das war in dieser Darstellung seiner Sinfonie unablässig spürbar. Man könnte auch Rilke zitieren: Wer spricht von siegen, überstehen ist alles.
Auch die beste Aufführung gelingt nicht, wenn es die ausführenden Künstler nicht gäbe. Der Rundfunkchor Berlin, das SWR-Vokalensemble, die Gesangssolisten Hillevi Martinpelto, Mihoko Fujimura, Robert Dean Smith, Franz-Josef Selig sowie der Erzähler David Wilson-Johnson in Schönbergs „Überlebenden“ setzten sich mit bewundernswerter Eindringlichkeit für die ungewöhnliche Aufführung ein. Ein würdiger Abschied für Sylvain Cambreling, sicher kein endgültiger. Von Stuttgart, wo Cambreling künftig die musikalischen Geschicke der Staatsoper leitet, bis nach Freiburg oder Baden-Baden ist der Weg zu einem Gastauftritt nicht allzu weit.