Drei mittelgroße Zimmer einer Altbauwohnung in Berlin-Friedenau, durch Flügeltüren miteinander verbunden. An den Wänden zeitgenössische Kunst: großformatige abstrakte Gemälde und Miniaturen. In den Räumen verteilt afrikanische und asiatische Plastiken. Vitrinen voller ungewöhnlicher Objekte, Fotos, Bücher, Fundstücke.
Als wir zum ersten Mal da gespielt haben, war ich ungefähr 18, und die Atmosphäre hat mich einfach umgehauen“, sagt Johanna Staemmler, Geigerin im Armida Quartett. „In dieser Wohnung, die auf jedem freien Quadratzentimeter voll ist mit Kunst, spielt man vor diesem wunderschönen Gemälde von Peter Schubert, und trotzdem hat es einen familiären Charme. Die Stühle passen nicht zusammen und werden einfach so hingestellt, wie sie gerade noch benutzt worden sind. Diese Atmosphäre schafft einen tollen Nährboden für das, was musikalisch passiert.“
Peter Schubert, von dem das großformatige Tafelgemälde in kräftigem Schwarz, Weiß, Rot und Grau an der Stirnseite stammt, war ein enger Freund von Heinz Röthinger. Von ihm hat er die Hauskonzert-Reihe übernommen. Als Peter Schubert nach 15 Jahren genug hatte von Konzerten in seinem Wohnzimmer, saß Heinz Röthinger, Hauptschullehrer mit einer brennenden Leidenschaft für Kunst, Literatur, Musik, gerade nach einer Trennung einsam in seiner Wohnung. So ergriff er die Gelegenheit, etwas Neues anzufangen. Das erste Konzert hat er von seinem Vorgänger geerbt, und es setzte gleich Maßstäbe: Eberhard Blum, der Flötist und Vorkämpfer für Neue Musik, führte die „Ursonate“ von Kurt Schwitters auf. Das zweite gestaltete ein Musiker, mit dem Heinz Röthinger nach dem Auftritt eines türkischen Ensembles im Foyer der Berliner Hochschule der Künste ins Gespräch kam: der aus Syrien stammende Oud-Virtuose Farhan Sabbagh. Das dritte einer, den er zufällig in einem winzigen italienischen Restaurant in Berlin-Kreuzberg hörte und der damals fast in Vergessenheit geraten war: der Jazz-Gitarrist Coco Schumann, der ein paar Jahre später das Schweigen über seine Erlebnisse in Theresienstadt brach und mit seiner Autobiographie „Der Ghetto-Swinger“ wieder ins Licht der Öffentlichkeit trat. „Er kam an meinem Geburtstag“, erzählt Heinz Röthinger, „und hat vier Stunden hier gespielt, für 100 Mark.“
Die Anfänge waren mühsam: „Ich hatte keinerlei Kontakte, warum sollte jemand in meiner Wohnung spielen wollen?“ Inzwischen, 35 Jahre und 300 Konzerte später, ist Heinz Röthinger eine Institution im Berliner Musikleben, bestens vernetzt und bekannt; mit vielen Musikerinnen und Musikern verbinden ihn freundschaftliche Beziehungen. Den Künstlerinnen und Künstlern bieten die Röthingerschen Konzerte eine einzigartige Gelegenheit, ein Programm in geschütztem Rahmen und vor kundigem Publikum auszuprobieren. „Es sitzen noch keine Kritiker da“, sagt Johanna Staemmler vom Armida Quartett, „sondern Leute, die gemeinsam mit einem diese Musik entdecken und genießen wollen, es ist sozusagen die Essenz dessen, was wir tun. Und der unmittelbare Austausch mit dem Publikum ist unschätzbar wertvoll.“
Die Namen derer, die im Laufe der Jahre mit ihren Instrumentenkästen die drei Stockwerke hochgestiegen sind, lesen sich wie ein „Who’s who“: Artemis Quartett. Signum Quartett. Vision String Quartett. Das Petersen Quartett, das zusammen mit Boris Pergamenschikow das Streichquintett von Schubert spielte. Cellisten wie Wolfgang Boettcher und Danjulo Ishizaka. Die Bratschistinnen Tabea Zimmermann und Pauline Sachse. Christine Schäfer, Anna Prohaska, Claudia Barainsky. Die slowakische Cimbalom-Spielerin Enikö Ginzery. Mitglieder der Berliner Philharmoniker oder des Konzerthausorchesters Berlin.
„Es hat eine besondere Aura“, findet Bernhard Hartog, ehemaliger Konzertmeister des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin, den Heinz Röthinger in den Anfangsjahren „in aller Unbefangenheit“ angesprochen hat und der, sofort angezogen von dem besonderen Ort, zu einem der wichtigsten Protagonisten wurde. „Das liegt am Hausherrn, an seinem Anspruch, seinen Ambitionen, aber auch seiner Großzügigkeit, was die Vielfalt der Programme betrifft, und seinem Interesse an Neuer Musik. Und es liegt an seinem Publikum.“
Ein handverlesenes Publikum: Es gibt keine Werbung und keine öffentlichen Ankündigungen. Alle Gäste kommen auf persönliche Einladung, viele schon seit Jahren oder Jahrzehnten. Manchmal so viele, dass die Wohnung beinahe aus den Nähten platzt. Und es kommen immer neue dazu. Der Arzt, der bei der Untersuchung erwähnte, dass er Kammermusik liebt. Die Konzertbesucherin, die Heinz Röthinger aufgefallen war, weil sie so aufmerksam zuhörte. Oft sitzen auch Musikerinnen und Musiker im Publikum. Denn häufig gibt es Unbekanntes zu entdecken. Viel Zeitgenössisches. Werke verfemter Komponisten, die erst nach und nach dem Vergessen entrissen wurden. So manche Uraufführung. Osteuropäische oder japanische Musik. Literatur-Rezitationen oder Vorträge, von Musikwissenschaftlern, Schriftstellern, Musikern, die sich von der kunstgesättigten Atmosphäre inspirieren lassen.
Heinz Röthinger geht es darum, etwas zu ermöglichen, den Boden zu bereiten für musikalische Ausnahme-Momente. Und das inmitten der Kunstobjekte, die, so versteht er es, „nicht nur persönliche Signale und Handschriften sind, sondern Mitteilungen, die die Räume erfüllen“. Dafür scheut er weder Kosten noch Mühen. Schreibt von Hand die Einladungen, die, inzwischen dank seiner Frau ergänzt um elektronische Post, in die Briefkästen der Gäste flattern. Schleppt Stühle, besorgt den Wein für die Pause, greift in die eigene Tasche, wenn der von den Gästen erbetene Beitrag einmal nicht reicht, um die Kosten zu decken. Ans Aufhören denkt Heinz Röthinger, der im Sommer 85 Jahre alt geworden ist, noch lange nicht. „Ich habe noch viele Ideen“, sagt er. Und lacht.