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Elektroakustische Stillleben: Douglas Lilburn im Studio der Victoria University, Wellington. Foto: Alexander Turnbull Library, Wellington (EP/1969/3689/18-F)
Elektroakustische Stillleben: Douglas Lilburn im Studio der Victoria University, Wellington. Foto: Alexander Turnbull Library, Wellington (EP/1969/3689/18-F)
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Aus sich selbst heraus bewegt

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Zum 100. Geburtstag des neuseeländischen Symphonikers Douglas Lilburn
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Douglas Lilburn, dessen Geburtstag sich am 2. November zum hundertsten Mal jährt, war nicht nur Neuseelands überragender Komponist – also das in Down Under, was Sibelius für die Finnen ist oder Bartók für die Ungarn –, sondern ein Meister von universellem Karat, eine singuläre Stimme in der unglaublichen Vielfalt der Musik des 20. Jahrhunderts. Wo seine Musik erklingt, strahlt sie auf Musiker und Zuhörer eine unwiderstehliche Wirkung aus – magisch, belebend, verwandelnd.

Die Einwände sind mir wohlbekannt. Wenn man beispielsweise die Erste Symphonie von Lilburn hört, deren Beginn zum Evokativsten der gesamten Orchesterliteratur zählt, so mögen die Anhänger des Fortschritts argumentieren, dass man so 1949 nicht mehr komponieren könne, doch wollen wir uns mit den Einseitigkeiten der akademischen Musikgeschichtsschreibung nicht weiter aufhalten, zumal ja auch Ikonen der Avantgarde wie Lachenmann und Zender längst damit kokettieren, dass sie lieber Schubert hören als ihre eigene Musik.

Mit anderen Worten, die Kraft der Tonalität ist ungebrochen, denn sie ist von Moden unabhängig und auch niemals ausschließlich an das abendländische Dur-Moll-System gebunden gewesen, wie dies die Gralshüter der Tradition in Zeiten des Umbruchs in die „Moderne“ so sehr betonten.

Douglas Lilburn war weder ein Romantiker noch ein Neo-Romantiker – letzteres ein Schlagwort der Reaktion auf die Menschenferne des Ghettos der Moderne, das vor allem in den USA viele Anhänger gefunden hat. Denn für Musiker wie Lilburn ist Musik ihrem Wesen nach sowohl romantisch als impressionistisch und expressionistisch. Und wie schon John Foulds, einer der ganz großen Unbekannten des vergangenen Jahrhunderts, es so unverblümt formulierte: von Expressionismus in der Musik zu sprechen, ist an und für sich ein Unding, denn Musik ist ihrem Wesen nach expressiv. So ist sie auch ihrem Wesen nach romantisch – das romantische Element ist nicht an eine Epoche gebunden, wir können es auch den emotionalen Aspekt nennen.

Bei Lilburn – wie bei Jean Sibelius, dem großen Vorbild seiner Jugend – ist dieses Emotionale nicht in seiner typisch urbanen Ausprägung der inneren Zerrissenheit (also dem Strang Mahler-Schönberg folgend) verankert, sondern in der Selbstfindung des Menschen in der Urgewalt und irrationalen Schönheit der Natur. Lilburn wuchs in der noch weitgehend unerschlossenen neuseeländischen Natur auf und hat Zeit seines Lebens nach einer künstlerischen Entsprechung dieser Unberührtheit gesucht.

In den dreißiger Jahren gewann er den Percy Grainger Prize und studierte in London bei Ralph Vaughan Williams, der ihn für einige Zeit, in stets weit geringerem Maße als Sibelius, mitprägte. Dass Lilburn freilich selbst in England, wo sein Stil durchaus hätte spontanen Anklang finden können, als Komponist kein Bein auf den Boden brachte, liegt in der Natur des Denkens der Kolonialherrschenden begründet. Ein schottischstämmiger „Anzak“, das war das Letzte, was man brauchen konnte. Außerdem hat Lilburns Musik, wie die von Sibelius, Ravel oder Foulds, in ihrem unverkennbaren Eigenton nicht den geringsten Anstrich von patriotischer Gesinnung, sondern stets etwas Trans-zendentes, dessen „Wir“ das Leben auf diesem Planeten ist, die sich wesensmäßig nicht eignet, um sich abzugrenzen oder eine kulturelle Überlegenheit zu demonstrieren.

Die ersten Werke, mit denen Lilburn hervortrat, waren ab Mitte der dreißiger Jahre einige Konzert-Ouvertüren, zu denen sich bald die Kantate „Prodigal Country“ (die, wäre sie von einem Engländer, heute auf und ab gespielt würde) und eine große Vielfalt, von Klavier-, Kammer- und Streichorchestermusik gesellte. Ein Streichquartett, ein Streichtrio und die einsätzige dritte Violinsonate sind hier besonders hervorzuheben. Die Entwicklung der ersten 15 Jahre gipfelte in seinen ersten beiden Symphonien, worunter nicht nur die Erste ein weltweites Repertoirestück wäre, würde man sie kennen. Doch steht auch hier, wie bei fast all seinen Orchesterwerken, nach wie vor die europäische Erstaufführung aus. Man kann nicht schöner und wirkungsvoller orchestrieren als Lilburn, und doch ist diese Musik alles andere als auf Effekt angelegt – dieser ist ihr vielmehr so natürlich eingeboren wie bei Mozart oder Ravel. Auch demonstriert er, wie Sibelius, grundsätzlich nicht sein überragendes handwerkliches Können, hat es also keineswegs nötig, mit Fugati zu imponieren oder eine bestimmte Form oder Gattung mit einer ultimativen Schöpfung zu bekrönen. Wer genau hinhört, wird allerdings feststellen, dass niemand je im traditionellen Orchester den Pauken eine derart kreative, bewusste und idiomgerechte Behandlung zuteil werden ließ; dass die Blechbläser mit einer Treffsicherheit sondergleichen unter voller Ausnutzung ihres Potentials eingesetzt werden, was nie zu Lärm und Dröhnen und auch mit traumwandlerischer Sicherheit nie in eine affirmative Sackgasse führt; dass er für Bläser, Streicher, Klavier und Schlaginstrumente in absolut balancierter Qualität idiomsicher zu schreiben verstand; dass seine Formen und sein aus einprägsamer Motivik sich wie von selbst fügender Satzbau zugleich fantasiehaft frei und wie von Zauberhand bezwingend zusammenhängend gestaltet sind.

In den fünfziger Jahren schlug sich in Lilburns Schaffen zunehmend die Beschäftigung mit aktuellen Strömungen nieder, von Bartók und Strawinsky zu Copland, Britten und anderen Meistern seiner Zeit. Dies führte zu einer fantastisch anmutenden Überfülle an Einfällen auf engem Raum, die in der Virtuosität der organischen Fusion divergierendster Elemente singulär ist – wo sonst begegneten sich Aspekte, die wir von Bach, Mozart, Beethoven, Sibelius, Bartók oder Strawinsky kennen, in solch unverbrüchlich wechselseitiger Durchdringung, ohne dass sie domes-tiziert würden oder collagenhaft zerfielen. Was sich in Werken wie der Suite for Orchestra oder dem Bläserquintett ankündigte, gipfelte 1956 in dem Orchesterkonzertstück „A Birthday Offering“ zum zehnten Geburtstag des New Zealand Symphony Orchestra, einer übermütigen Apotheose des Kapriziösen.

Antipode dazu ist seine 1961 vollendete Dritte Symphonie, die in ihrer äußersten Konzentration des Materials aufgrund freier Einbeziehung serieller Verfahren ernst und unerbittlich wirkt und großen Eindruck auf seine Nachfolger machte, aber auch Symptom einer Krise ist, wie sie viele Komponisten seiner Generation durchleben sollten: Wie verhalte ich mich zu dem, was als „up-to-date“ gilt, was ideologisch von mir verlangt wird. Die meisten haben sich angepasst oder reaktionär dagegen gewendet, manche sind verstummt, und Lilburn wandte sich komplett und endgültig vom Orchester und der Kammermusik, seinen natürlichen Stärken, ab und erstellte fast nur noch elektro-akus-tische Stillleben, die von den Natureindrücken seiner Jugend inspiriert sind und zum Originellsten und subtil Hochwertigsten gehören, was in diesem Genre geschaffen wurde.

Daneben entstanden noch 17 wunderschöne, wie improvisiert wirkende Miniaturen für Gitarre und einige Klavierstücke. Er wirkte außerdem nach als Musikschriftsteller, Dirigent, Verlagsgründer, Gründer einer Stiftung für neuseeländische Komponisten und natürlich als Mentor der nächsten Generation. 1961 verstummte er als Orchesterkomponist bis zu seinem Tod 2001 – auch dies eine Parallele zu Sibelius. Heute gibt es so etwas wie einen erkennbaren neuseeländischen Ton, also eine Art „Lilburn-Sound“, der in eigener Anverwandlung mit dunkel glühender Leuchtkraft in Orchesterwerken von David Farquhar oder Anthony Ritchie vernehmbar ist – eine charakteristische Sonorität mit einer magischen Ausstrahlung, wie dies auch von gänzlich unorthodox schulbildenden Vorgängern wie Debussy oder Sibelius zu sagen ist.

Douglas Lilburns Musik bis Ende der fünfziger Jahre zeichnet eine spontane Frische und ursprüngliche Freude aus, ein kontinuierliches, unwillkürliches „Aus-sich-selbst-heraus-bewegt-Sein“ und eine graziös artikulierte Innerlichkeit, die an sein Vorbild Mozart gemahnt, auch wenn er sich nach seinem Rückzug vor allem in den Kosmos Bachs vertiefte. Es ist an der Zeit, dass wir sein Schaffen entdecken.

  • Noten, Schriften, Biographie und Aufnahmen sind erhältlich vom Centre for New Zealand Music: www.sounz.co.nz
  • CDs bei Atoll Records (Vertrieb Naxos) und Naxos

Neu erschienen:

  • Masterworks for Strings (Atoll ACD 142)
  • Complete Electro-Acoustic Works (Atoll ACD 404)

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