Hauptrubrik
Banner Full-Size

Außenseiter am Hofe der Klassiker

Untertitel
Uri Caine setzt sich mit Bach, Schumann, Mahler und Wagner auseinander
Publikationsdatum
Body

Uri Caine ist nicht der Erste, der sich als Jazzmusiker kompetent mit klassischem Material auseinander setzt. Man denke an Gil Evans und das „Concierto de Aranjuez“ oder das Vienna Art Orchestra und seine Satie-Bearbeitungen. Doch während diese sich an den Rändern der Classical Music bewegen, interessierte sich Caine für deren zentrale Figuren: „Ich weiß nicht, ob ich der erste Jazzmusiker bin, der Gustav Mahler entdeckte. Jazzmusiker verwenden eine Menge Zeit darauf, Standards zu lernen, um dann darüber zu improvisieren. Warum nicht über andere Formen improvisieren. Man spielt heute viel über Formen aus der Musik des Balkans und benutzt das als Vehikel. Wenn ich Mahler spiele, dann benutze ich ihn als Vehikel.“

Bis vor wenigen Jahren noch gehörte er zur großen Karawane moderner zeitgenössischer Jazzmusiker, die es satt hatten, für 50 Dollar am Abend in der New Yorker Knitting Factory zu spielen. Also machten sie sich auf nach Europa und bespielten dort die Festivals mit Avantgarde und Mainstream. Uri Caine ging dabei einen ganz eigenen Weg, und der Erfolg gibt ihm recht. Seine Bearbeitungen von Mahler, Wagner, Schumann, neuerdings Bach finden Anklang beim Jazzpublikum, manchmal sogar bei Klassikhörern. „Jedes meiner Projekte ist ein bisschen ‚trampeling on sacred grounds‘“. Caine sagt das selbstbewusst, doch nicht mit der Attitüde des fanatischen Bilderstürmers. Die Zeit war einfach reif für sein Projekt, die Säulenheiligen der Klassik in der Sprache des Jazz zu interpretieren. Uri Caine ist nicht der Erste, der sich als Jazzmusiker kompetent mit klassischem Material auseinander setzt. Man denke an Gil Evans und das „Concierto de Aranjuez“ oder das Vienna Art Orchestra und seine Satie-Bearbeitungen. Doch während diese sich an den Rändern der Classical Music bewegen, interessierte sich Caine für deren zentrale Figuren: „Ich weiß nicht, ob ich der erste Jazzmusiker bin, der Gustav Mahler entdeckte. Jazzmusiker verwenden eine Menge Zeit darauf, Standards zu lernen, um dann darüber zu improvisieren. Warum nicht über andere Formen improvisieren. Man spielt heute viel über Formen aus der Musik des Balkans und benutzt das als Vehikel. Wenn ich Mahler spiele, dann benutze ich ihn als Vehikel.“ class="bild">Uri Caine. Mag Klassiker lieber als Jazzstandards (c) Lindell Thorsen

Caines Begründung klingt lapidar. Seine Musik aber aufregend. Woher rührt die Qualität seiner Jazzparaphrasen? Warum werden sie von derselben Musikkritik akzeptiert, die sich sonst seitenlang über den Gehalt einer klassischen Interpretation echauffieren kann oder Play-Bach zu Recht als Reibach dekuvriert? „Das mag damit zusammenhängen“ so Caine. „dass Mahlers Musik und Jazz aus New York manches gemeinsam haben: die Musikkapellen und Marching Bands, die Klezmermusik, die Kollision von unterschiedlichen Musikkulturen. Gemeinsam ist ihnen auch die emotionale Ausdruckskraft, der Stimmungs- und Farbenreichtum.“

Caine zählt zum Typus eines „neuen Musikers“, der einfach nicht da bleiben will, wo er – vermeintlich – hingehört. Der Jazzer nicht bei seinen Soli, Changes und Standards und der Klassiker nicht beim Kanon der großen Konzertliteratur. Also werden neue Wege gesucht. Mancher landete dabei in einer Sackgasse: Der Bach eines Jaques Loussier oder der Bebop eines Friedrich Gulda mögen hier als Beispiel dienen. Immer aufs Neue aber reizt es Musiker, die Mauern zwischen U und E, zwischen Jazzfeeling und Urtext niederzureißen. Erfolgreich sind allerdings nur wenige: Markus Stockhausen, Zoro Babel, Keith Jarrett, Daniel Schnyder, Klaus König, Michael Riessler, Barry Guy – und auch Uri Caine. Die Herangehensweisen unterscheiden sich stark. Gemeinsam ist allen diesen „neuen“ Interpreten jedoch eines: Sie sind zu Hause in Klassik, Jazz und neuer Musik.

Uri Caine wurde 1956 in Philadelphia geboren. Der Sohn jüdisch-russischer Immigranten erhielt mit acht ersten Klavierunterricht, mit zwölf entdeckte er die Welt von Miles Davis und John Coltrane. Später studierte Caine Komposition bei George Rochberg und George Crumb. Rochberg ließ ihn im Stil von Mozart oder Chopin komponieren – damit gab er Caine das Handwerkszeug für seine späteren Klassik-Paraphrasen.

Vier große Klassikprojekte kann Caine inzwischen vorweisen. Es begann mit Mahler, dann kam Wagner, Schumann, das jüngste Projekt sind die Goldberg-Variationen, mit denen Caine einen eigenständigen Beitrag zum Bach-Jahr leistet. Der Pianist betreibt Understatement, wenn er sagt, er benütze Mahler- und Schumann-Akkorde oder Bach’sche Kanons nur als Vehikel für seine Soli. Bevor er sich ans Arrangieren macht, gehen etliche Studien voraus, die über die normale Auseinandersetzung eines Interpreten mit dem Notentext hinausgehen.

„Bei Mahler war mir der jüdische Aspekt wichtig, ohne dass ich ihn in den Vordergrund stellen wollte. So wie in Amerika der Rassenkonflikt ein fundamentaler Aspekt der dortigen Kultur und der Gesellschaft ist, so ist für mich das entsprechende Element in Europa die Frage der jüdischen Kultur. Mahler wollte einfach die Wiener Philharmoniker dirigieren, also konvertierte er zu dem Zeitpunkt, an dem es nötig wurde. Er war zuerst Musiker, Musik war seine Religion.“

Interessant für den Jazzmusiker war es auch, festzustellen, dass jeder klassische Komponist noch posthum seinen Hof um sich schart. Bei seinen Mahler-Paraphrasen zum Beispiel wurde er gefragt: „Warum kommen sie, ein Außenseiter, in unsere Welt?“ Auch die Wagnerianer nehmen sich sehr ernst: „Bis heute erhalte ich Reaktionen, die Unverständnis darüber ausdrücken, dass ich Wagner-Ouvertüren in Venedig auf der Piazza San Marco spielte“. Dabei ist Caines Wagner-Idee durchaus authentisch. Der Pianist studierte Richard Wagners Tagebücher im selben Café sitzend, in dem dieser im Jahr 1858 selbst gerne verkehrte. Nur dass die Kapelle heute anstelle populärer Wagner-Bearbeitungen Puccini, Freddy Mercury und diverse Poptitel intoniert.

„Zunächst schrieb ich Arrangements für diese Bands. Doch die konnten und wollten das nicht spielen.“ Caines Plattenproduzent, Stefan Winter, schlug vor, Caine solle mit Musikern aus New York eine Woche auf der Piazza spielen. Die Live-Mitschnitte dokumentieren, wie Caine aus den dicken, bombastischen Orchesterpartituren Kammermusik machte, der etwas Mendelssohnhaftes zu eigen ist.

„Wagner hätte das gehasst“, schmunzelt Caine. „Ich spiele Wagner, auch wenn er Antisemit war und seine Rezeption lange Jahre von den Nazis vereinnahmt worden ist. Als Musiker veränderte er die Geschichte, das interessiert mich letztlich an ihm“, sagt Caine. Und man darf annehmen, dass Wagner die neue Popularität seiner Musik geschmeichelt hätte – vorausgesetzt natürlich, Tempo und Phrasierung entspräche seinen Vorstellungen. Solange im „Bayreuther Musikmuseum“ – und nicht nur dort – alles seinen gewohnten Gang geht, ist es kreativen Außenseitern wie Caine zu verdanken, wenn die Klassik eine Zukunft hat.

Diskografie

Gustav Mahler: Urlicht (1997) 910 004-2

Wagner e Venezia (1997) 910 013-2

The Uri Caine Ensemble: Gustav Mahler in Toblach (1999), 2 CDs 910 046-2

Robert Schumann: Love Fugue (2000) 910 049-2

J.S. Bach/Uri Caine: Goldberg-Variationen (2000), 2 CDs 910 054-2

Alle CDs sind bei Winter & Winter erschienen (Vertrieb edelrecords).

 

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!