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Betrachtungen eines Messiaen-Interpreten

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Pierre-Laurent Aimard mit dem Klavierzyklus „Vingt regards sur l’Enfant Jesus“
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Über Messiaen sagt Aimard: „Unter den Komponisten seiner Zeit war Messiaen ziemlich isoliert mit seiner religiös motivierten Art von Inspiration. Diese Unabhängigkeit hat auch viel zu tun mit der Unabhängigkeit seiner musikalischen Sprache. Das Paradoxe dabei ist: Er arbeitete sehr viel mit Farben, als andere sich um Sinusklänge bemühten, er beschäftigte sich Ende der 50er-Jahre mit Vogelgesängen, als andere abstrakt komponiert haben. Messiaen ist ein sehr schönes Beispiel von großer, völliger Unabhängigkeit. Ein gutes Beispiel für einen wirklich schöpferischen Geist.“

Er ist ein Spezialist für neue Musik, der sich aber auch in den Werken vergangener Epochen zuhause fühlt: Pierre-Laurent Aimard. Mühelos sprang er für den erkrankten Richard Goode ein und spielte das fünfte Klavierkonzert von Beethoven (Ende Januar in der Berliner Philharmonie unter Bernard Haitink) oder gibt unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt Beethovens drittes Klavierkonzert (im Juni 2000 in Graz). Und am liebsten würde er Schubert auf einem Originalinstrument spielen. Dennoch: Seine Reputation bei Fachwelt und Publikum erwarb er sich als herausragender Interpret von György Ligeti und Olivier Messiaen. Über Messiaen sagt Aimard: „Unter den Komponisten seiner Zeit war Messiaen ziemlich isoliert mit seiner religiös motivierten Art von Inspiration. Diese Unabhängigkeit hat auch viel zu tun mit der Unabhängigkeit seiner musikalischen Sprache. Das Paradoxe dabei ist: Er arbeitete sehr viel mit Farben, als andere sich um Sinusklänge bemühten, er beschäftigte sich Ende der 50er-Jahre mit Vogelgesängen, als andere abstrakt komponiert haben. Messiaen ist ein sehr schönes Beispiel von großer, völliger Unabhängigkeit. Ein gutes Beispiel für einen wirklich schöpferischen Geist.“ Mit zwölf wurde Aimard Schüler von Yvonne Loriod, der Frau Messiaens. Durch diesen Umstand kam er sehr früh in Verbindung mit den beiden und mit Messiaens Werk. „Nach meinem ersten Jahr in der Klasse von Yvonne Loriod freute sie sich über das Resultat ihrer Bemühungen mit mir und als Geschenk luden sie und ihr Mann mich ein, auf eine Tournee mitzugehen. Messiaen selber lud mich auch ziemlich oft in seine Klasse ein. Ich hörte sehr viel Proben und Konzerte von ihm. Diese vielen unterschiedlichen Erfahrungen ergeben eine ganz besondere Perspektive, wenn ich mich mit seiner Musik beschäftige. Messiaens Musik ist eine Art von Muttersprache für mich geworden.“ Doch Messiaen und Loriod weckten nicht nur die Liebe zur eigenen Musik im jungen Aimard. Aus ihrer Schule ging ein Pianist hervor, der sich seit mehr als zwei Jahrzehnten als Künstler und als Klavierpädagoge mit der für ihn typischen, unermüdlichen Energie für zeitgenössische Musik einsetzt. 1976, im Alter von 19 Jahren bereits, holte Pierre Boulez den Pianisten in sein damals neugegründetes Ensemble Intercontemporain, EIC. Als Klaviersolist dieses Spitzenensembles schrieb Aimard mit an der jüngsten Geschichte der neuen Musik. „Zum EIC kam ich mit 19 Jahren. Eine solche Chance zu erhalten mit so einem ‚Riesen‘ der Musik zu arbeiten, ist wirklich eine Ausnahmeerfahrung im Leben. Es ist klar, dass jemand, der so strahlt – musikalisch, intellektuell und professionell –, dass der unendlich viel geben kann. Als Interpret bin ich immer bestrebt, wieder zu geben, was ich vom Urheber bekommen habe – im künstlerischen wie im pädagogischen Sinne.“

Im Januar gab Aimard in der Kölner Philharmonie ein Recital mit Werken von Pierre Boulez, der hier in dieser Spielzeit anlässlich seines 75. Geburtstages (26. März) Artist in Residence ist. Parallel leitete er eine Reihe von Workshops an der Musikhochschule Köln – Aimard hat hier einen Lehrauftrag – wo in jedem ein Stück des Komponisten erarbeitet wurde. „Die Absicht hinter dem Ganzen war“, betont Aimard, „Hochschule und Konzertbetrieb einander näher zu bringen, beide Institutionen thematisch zu verzahnen.“ Über diese Aktivitäten hinaus, verbindet Aimard und Boulez noch eine weitere Gemeinsamkeit: Beide haben sie bei Olivier Messiaen studiert. Während für Pierre Boulez die Messiaen-Etüde „Mode de valeurs et d’intensités“, sozusagen die serielle „Urkomposition“, von Bedeutung war, stand für Aimard ein Werk aus einer anderen Schaffensperiode Messiaens im Vordergrund, die „Vingt regards sur l’Enfant Jesus“. Diese „Zwanzig Betrachtungen über das Jesuskind“ sind ein großdimensionierter Klavierzyklus von zwei Stunden Dauer, der nicht alle Tage im Konzert und selten auf Platte zu hören ist. Aimard legte sich die Noten dazu das erste Mal 1969, also mit zwölf, aufs Pult. „Ich spielte jedoch nur Teile davon, nicht den ganzen Zyklus. Ich muss 16 oder 17 gewesen sein, als ich zum ersten Mal den gesamten Zyklus spielte. Trotz dieser lang dauernden Verbindung zu dem Werk bleibt für mich dieser riesige Zyklus immer eine Ausnahme: Die Musik ist unglaublich tief, reich und eindrucksvoll.“

Die „Zwanzig Betrachtungen über das Jesuskind“ sind keine Unterhaltungsmusik, sondern stellen für Interpret und Publikum eine Herausforderung dar. Vom Pianisten fordern sie gründlichste Vorbereitung sowie sehr viel Kraft und Präzision. Pierre-Laurent Aimard über das Werk: „Die ‚Zwanzig Betrachtungen‘ sind wie ein riesiges Fresko. Sie besitzen tiefe Spiritualität und extrem vielseitige Emotionen.“ Zwei Extrakte nahm Aimard bereits 1973/74 auf (für Erato): Das war nach dem Messiaen-Wettbewerb 1973, bei dem er den ersten Preis gewonnen hatte. „Seit dieser Zeit träume ich davon, den ganzen Zyklus aufzunehmen. Es hat ein bisschen gedauert und ich freue mich sehr, dass es heute zu einem Zeitpunkt geschehen ist, wo ich ein bisschen mehr Erfahrung habe als Interpret und Mensch.“ Für Teldec spielte Aimard den Zyklus auf dem Steinway des Schweizerischen La Chaux de Fonds ein, einem Konzertsaal, der unter Tonmeistern und Interpreten einen hervorragenden Ruf hat.

„Es lohnt sich für mich nicht“, so der heute 42-Jährige, „unter kommerziellen Gesichtspunkten regelmäßig Aufnahmen zu machen. Aufnahmen machen nur dann Sinn, wenn man sich wirklich Zeit zum Nachdenken über Werk und Komponist nimmt. Und schließlich nicht nur darüber, sondern auch über Instrument, Raumklang – ja sogar bis hin zum Stimmer vor Ort.“ Im Konzertsaal wird Pierre-Laurent Aimards Interpretation der „Vingt regards sur l’Enfant Jesus“ dieses Jahr noch am 1. September in Badenweiler und am 20. September in Frankfurt zu hören sein.

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