Der Tod Karlheinz Stockhausens hat noch einmal den Blick – staunend, bewundernd, selbst bestürzt – auf einen Künstlertypus gelenkt, der exemplarisch, ja epochal für den demiurgischen Anspruch stand: der egozentrisch-monoman bis in den Solipsismus hinein einzig dem eigenen Werk lebte. Wer Stockhausen seit den sechziger Jahren kannte und regelmäßig erlebte, wird in Erinnerung haben, wie relativ linear in dieser Hinsicht seine Entwicklung ver-lief. Seit den achtziger Jahren jedenfalls hat sich Stockhausen kaum mehr ernsthaft für andere Musik interessiert als die ausschließlich eigene; an der der Zeitgenossen, erst recht der Jüngeren, war ihm immer weniger gelegen. Solcherart Rigidität ist keineswegs gering zu schätzen, gehört zum Pathos des autonomen romantischen Originalgenies, ist darin zumindest smarter Kommunikationsgefälligkeit vorzuziehen. Zumal die historischen Vorbilder immerhin Richard Wagner und Alexander Skrjabin heißen.
Den Gegentypus vertraten etwa Franz Liszt oder Ferruccio Busoni – große Komponisten gewiss ebenfalls, jedoch entschieden großzügiger in ihrem Wirken: als charismatische Interpreten nicht nur in eigener Sache, als Lehrer, Vermittler, enthusiastische Initiatoren und übergreifende Ästhetiker. Sie agierten als Katalysatoren der Künste, weniger als Monade ihrer selbst.
Erinnert man sich nun an Hans Otte, so steht er einem denn auch in mehrfacher Funktion vor Augen, nicht zuletzt als Erscheinung. Ein stets gelassen zugewandter, freundlicher Blick kam einem aus einem lange erstaunlich alterslos wirkenden Gesicht entgegen, im sanft geheimnisvollen Lächeln seinem großen Wahlverwandten John Cage mitunter durchaus ähnlich. Otte war ein Kommunikator und Multiplikator, der seit den fünfziger Jahren erheblichen Einfluss auf die Entwicklung der Künste genommen hat. Und dies gerade weil ihm die Züge des gewieft technokratischen Kulturmanagers fremd waren: ein „Macher“ ohne alle Machthaber-Allüre. Denn zuallererst war und blieb er Musiker, Komponist und Pianist. Doch schon die Wahl der Lehrer des 1926 in Plauen geborenen Otte war symptomatisch. Klavier bei Walter Gieseking, Komposition bei Paul Hindemith in Amerika, Orgel bei Fernando Germani in Rom. Galt Gieseking, Spezialist nicht zuletzt für Debussy und Ravel, kaum als deutscher „Seher“-Pianist a la Elly Ney oder Wilhelm Kempff, so vertrat der späte Hindemith die Rückwendung zur Tonalität – und in der Sicht der Frankfurter Helmut-Walcha-Orhodoxie war Germanis Bach-Spiel grauslicher Romantizismus. Otte taugte nicht im mindesten zu deutscher Systemgläubigkeit, weder im Nachleben der expressionistischen Tendenzen der Schönberg-Schule noch der Darmstädter Serialismus-Doktrinen.
Als einer der ersten hat er sich von deren rigider Lehre abgewandt: nur via Atonalität, Reihentechnik und Elektronik ließe sich authentische „Neue“ Musik komponieren; alles andere sei nichts als dumpfe Reaktion. Dabei gehörte Otte durchaus zur radikalen Avantgarde, wurden doch seine Arbeiten der fünfziger und sechziger Jahre regelmäßig auf deren etablierten Foren (Donaueschingen) kreiert. Aber angeregt schon früh durch Cage und etwa gleichzeitig mit Mauricio Kagel gelangte er zu zwei nicht unbedingt parallelen, aber doch sich vom Konsens entfernenden Strategien – entsprechend Cages Ideal „Lasst Klänge Klänge sein“ und Kagels Idee eines „Komponierens mit nichtklingenden Materialien“. Tönende Statik und Vernetzung der Künste bestimmten zunehmend seine ästhetischen Prozesse, die immer weiter weg führten von der Diversifikation des tönenden Materials und stattdessen immer mehr visuelle und sprachlich-phonetische Elemente miteinbezog. Audio- und Video-Installationen, Hörspiele, Textraster, Theater und Film, Performance traten gleichberechtigt, ja dominant zum „traditionellen“ Komponieren. Was ihn von ähnlichen Tendenzen bei Kagel, Schnebel und selbst Stockhausen unterschied, war die Distanz zu Surrealismus und Dadaismus, die bisweilen fast asketische Verweigerung psychologisch-realistischer Ursache-Wirkung-Relationen. Auch darin blieb Cage sein großes Vorbild. Einen enormen Überblick bot 1979 die große Ausstellung „Visuelle Musik Klänge Texte Bilder Ereignisse Theater“ in der Kunsthalle Baden-Baden.
Zwei Jahrzehnte zuvor hatte sich allerdings noch etwas anderes ergeben: Otte wurde nach einem Rom-Aufenthalt zum damals jüngsten Musikhaupt- u uabteilungsleiter der ARD ernannt, bei Radio Bremen: von der „ewigen Stadt“ in die hanseatische „Provinz“. Der kleine Stadtstaat-Sender hätte womöglich einen karierristisch ehrgeizigeren Technokraten weniger gereizt. Otte gründete das Festival „pro musica nova“ und sah die Vorteile im „Mangel“: Große Apparate wie Orchester oder Chor mussten nicht beschäftigt werden, die Administration blieb überschaubar. Auf die Ideen kam es an, weniger auf die opulente Repräsentation.
Bremen freilich schulte den überseeischen Blick: An die Stelle der vielfältigen Traditionsbezüge der europäischen Moderne und selbst Avantgarde eröffneten sich ihm asiatische wie amerikanische Räume, sogar in ihren Zusammenhängen. Sprituelle, etwa buddhistische Welten und die Gewaltlosigkeits-Anarchie Cages berührten, durchdrangen sich. Otte setzte auf eine alternative Avantgarde, hielt auf Abstand zu den Präferenzen in Donau-eschingen, Darmstadt, Köln oder im großmächtigen Hamburg. Da ergab sich eine Art Parallele zu der Dauerrivalität zwischen Wien und Graz: Hier die glanzvolle Tradition, dort das Experiment. In der Ära Hübner war Bremen zur Theater-Metropole sui generis geworden, bis hin zur liebevollen Titelvariante, die in den siebziger Jahren „Theater heute“ zu „Bremen heute“ mutieren ließ.
Otte holte vor allem die Amerikaner an die Weser: Cage, La Monte Young, Riley, Reich, Joan La Barbara, Meredith Monk, die Fluxus-Künstler Alan Kaprow und Dick Higgins, auch Nam June Paik und Wolf Vostell. Hinzu kamen Literaten wie Helmut Heißenbüttel, Gerhard Rühm, Hans G. Helms und Ferdinand Kriwet. Ganz andere Raum-Zeit-Klang-Sprach-Bild Konzepte waren da zu erleben. Die europäischen Komponisten hat er darüber nicht vernachlässigt, im Gegenteil epochale Uraufführungen ermöglicht: entscheidende Orgel-Innovationen wie Ligetis „Volumina“ oder Kagels „Improvisation ajoutée“, Schnebels „Choralvorspiele“. Kagels „Sur scène“ wurde 1962 kreiert, ebenso „Eine Lektüre von Orwell“, „Tremens“, „Der Eid des Hippokrates“ und „Klangwehr“, Stockhausens vierteilige „Herbstmusik“ ereignete sich 1974. Manche Novitäten waren so nur in Bremen zu erleben. Wer wissen wollte, was die avancierte Kunst an- und umtrieb, musste an die Weser fahren. Dabei hatte Otte nicht das mindeste vom Guru oder New-Age-Apostel. Grenzüberschreitung und ruhige Sachlichkeit gehörten bei ihm zusammen. Analog hatte er schließlich gleich von Anfang an parallel das Festival „pro music antiqua“ initiiert, wo sogar schon 1961 der junge Nikolaus Harnoncourt einen seiner ersten größeren Auftritte hatte. Dass Otte sich bei seinem Sender in eigener Sache als Komponist zurückhielt, verstand sich. 1984 gab er die Position, weithin mit ihm identisch, auf: kein Wunder, dass die Impulse rasch erloschen.
Schon bei der entschieden multimedialen Baden-Badener Präsentation 1979 wurde Otte klar, dass das Klavier sein Instrument blieb. So schrieb er „Das Buch der Klänge“, spielte im November 1982 bei den Metzer „Rencontres“ die über einstündige Uraufführung. Es ist wahrlich Pianistenmusik, von Klang, Mechanik, aber auch Tradition des Instruments geprägt: spirituell-statisch-kinetische (kein Widerspruch). Exerzitien, hauptsächlich tonal, figurativ, eher antiexpressiv und -dynamisch, im Grundduktus fast freundlich. Mit Meditationsmusik oder Minimalismus wäre das Werk indes falsch etikettiert, viel zu stark ist dafür die Lust an Klang und Bewegung spürbar: ein Glasperlenspiel voll verhaltener Leidenschaft. Asiatisch-amerikanische Ingredienzen lassen sich natürlich heraushören, nicht minder aber die motorischen Subtilitäten, „künstlichen Paradiese“ Debussys und Ravels. Ähnlich betörend, fast noch entrückter, tönt sein „Stundenbuch“ (1991–98): Simplizität ohne jede plump reaktionäre Regression.