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Das Grenzenlose, das Unermessliche des Kleinen

Untertitel
Der Komponist György Kurtág wird am 19. Februar 80 Jahre alt
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Die Musikgeschichte geht seltsame Wege. Parallele Ereignisse werden oft nicht gleichzeitig wahrgenommen, da Mode oder Zeitgeschmäcker die eine oder andere Seite ins Abseits drängen. Jede Gegenwart ist in dieser Hinsicht ungerecht und später kommt es zu merkwürdigen Faltungen. Eines freilich ist tröstlich: Jede von vorherrschenden Strömungen bestimmte Zeit beginnt an ihren Defiziten zu leiden. Die Moderne der 50er- und 60er-Jahre konnte jede des Romantizismus verdächtige Ausdruckshaltung ad acta legen, im Untergehölz aber begann die Sehnsucht danach (nicht im Sinne eines „zurück zu“, sondern von „auf neue Art denken“) Triebe zu schlagen.

Der im heutigen Rumänien am 19. Februar 1926 geborene ungarische Komponist György Kurtág ist ein Musiker, der von dieser Ungleichzeitigkeit musikalischer Entwicklungen ganz direkt, ganz existenziell betroffen war. Bis weit in die 80er-Jahre hinein wurde er in den westlichen Zentren der Moderne so gut wie überhaupt nicht wahrgenommen. Als zu dieser Zeit dann das strukturell dominierte musikalische Denken immer dünnere Resultate zeitigte, als die meisten avantgardistischen Komponisten (z.B. Nono, Ligeti, Lutoslawski, Feldman, Stockhausen, selbst Boulez) Prozesse des Umdenkens einleiteten, da bemerkte man plötzlich, dass an anderer Stelle all das neu zu Erwägende schon gedacht war. Und auf einmal stand der vordem abgehängte György Kurtág ganz vorne in der musikalischen Entwicklung. Eines lässt sich nämlich letztlich nicht verdrängen: die Intensität des musikalischen Empfindens, so abwegig diese Ansätze auch eine Zeit lang von herrschender Meinung eingeschätzt werden. Ja es mag sogar so sein, dass diese Intensität in Isolierung sich noch steigert, verdichtet, charakterlich ausprägt – vorausgesetzt freilich, dass der Komponist ein Potenzial des Überstehens ausbildet und selbstgewiss seine Sache betreibt; lässt er sich korrumpieren, wäre er verloren.

Kurtág hat wie kaum ein zweiter Komponist auf die energetischen Potenzen des einzelnen Tons verwiesen. In ihm ruhen die Pole des Ausbruchs wie des Verstummens, des ewigen Fortklingens wie des harten Schlags. Auf einmal ist unermesslicher Reichtum da, wo bisher der Blick auf das Messbare, auf das skalen- oder reihenmäßige Erfassen gerichtet wurde. Und Kurtág wurde zum Propheten dieser Unermesslichkeit. Seine Werke sind, Zeichen, Botschaften, Spiele, Fragmente, Grüße, Hommagen, sie spielen auf engstem Raum, weil wirkliche Energie nicht die Wucht der Detonation benötigt, in der sie sich ohnehin verbraucht. „Energie ist für mich Reserve von Kraft“, sagte Kurtág auf einer ihm gewidmeten Tagung in Weingarten 2004. Und er ergänzte: „Mein Erzfeind ist die Dynamik“. Solche Aussagen stießen ins Rückenmark vormaliger kompositionsästhetischer Ansichten, die bis zum Überschwang dem konkret Benennbaren und Notierbaren trauten.

Umstürzend schöpferische Tat bedeutet aber gerade, die Welt unter vordem ausgeschlossenen Kriterien neu zu sehen. Die Tentakel der Empfindung können sich nicht schon gebrauchte Handschuhe überstülpen.

Wer so verfährt, muss epigonal bleiben. Kurtág aber ist einer der großen Suchenden, einer der großen Boten unserer Zeit. Er entdeckte das Mannigfache im Kleinen, in den Monaden unserer Welt. Die Intensität der Empfindung, so lässt jedes seiner Werke erfahren, hat keine Grenzen. Dem nachzuspüren verlangt höchste und un- eingeschränkt Anteil nehmende Hinwendung, mit einem Sensorium, das sich im Akt des beobachtenden Wahrnehmens selbst immer mehr verfeinert.

Solche Prozesse sind nicht nach der Masse des Ausstoßes zu messen. Das Werk Kurtágs, zumindest das, das er 1959 noch einmal mit einem Opus 1 beginnen ließ, ist schmal – vergleichbar dem von Anton Webern, mit dem Kurtág manch Gemeinsames teilt (die Liebe nach Innen, hin zum Kleinen, zum Schlummernden, das freilich alle Entfaltungen in sich birgt). Und in späten Arbeiten bekundet sich immer wieder die vorangetriebene Tendenz zu noch rigoroserer und zugleich liebender Konzentration: hin auf die nackte melodische Linie, auf den isolierten Klang, auf die alles bergende Stille. Aber gerade diese kargen oder schüchtern einsamen Gebilde glühen von innen heraus mit äußerster Energie, die diametral zur Sparsamkeit der Gestalt steht. Wie viel Formen des Nickens, des Schulterzuckens, des Kopfschüttelns, der verschreckten Abwehr gibt es? Es gibt keine Antwort, aber es gibt das Glück am Vielgestaltigen. Kurtágs Musik nimmt daran Anteil.

Vielleicht ist sogar dies die zentrale Botschaft Kurtágs: Energie wächst nicht durch die Massierung, sondern durch die konzentrierte Reduzierung der Mittel – eine Botschaft, die radikal eingreift in unser von Erfolgsstatistiken, Quoten und materiellen Zuwachsraten verdrehtes Denken. Solche Eingriffe aber adeln die künstlerische Tat und verschmelzen sie mit einem Leben, das diese Bezeichnung noch verdient.
Es bleibt Reichtum.

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