Wer sie in ihrer Londoner Wohnung besuchte, staunte über ihren Optimismus, der offenbar durch nichts zu erschüttern war. „Ich sehe nur das Gute“, bekannte sie, „das Schlechte ist dazu da, um besser zu werden.“ Jeden Tag ihres 110-jährigen Lebens sah sie als Geschenk an, als eine erneute Chance, um glücklich zu sein. Ermöglicht wurde dies für sie durch die Liebe, zur Natur, zu den Menschen und vor allem zur Musik.
Dabei hätte Alice Herz-Sommer allen Grund gehabt, sich von ihrem an Schrecknissen reichen Leben niederdrücken zu lassen. Denn die 1903 als Tochter eines jüdischen Fabrikantenehepaars in Prag Geborene erlitt nicht nur zwei Jahre Haft im Ghetto Theresienstadt, sondern verlor im Holocaust ihre Mutter und ihren Ehemann; 2001 starb ihr Sohn Raphael. Doch zunächst waren die Weichen auf Glück und Erfolg gestellt: „Ich komme aus einem sehr intellektuellen Elternhaus“, sagt sie in einem BBC-Interview mit augenzwinkerndem Humor. Sigmund Freud und Franz Kafka verkehrten dort; ihre Eltern waren außerdem mit den Eltern Gustav Mahlers befreundet. Mit sechzehn Jahren war Alice die jüngste Studentin an der Deutschen Musikakademie Prag.
Die 1930er-Jahre sahen sie auf dem Weg zur Pianistenkarriere, und Artur Schnabel lehnte sie als Meisterschülerin ab, da er meinte, ihr weder technisch noch musikalisch etwas beibringen zu können.
Alice Herz-Sommers beruflicher Lebensweg ist eng mit dem ihrer Kollegin Edith Kraus verbunden. Die Pianisten-Freundinnen veranstalteten gemeinsame Hauskonzerte, nachdem sie nach der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Nazis 1938 Auftrittsverbot erhalten hatten. Als sie sich nicht mehr sehen konnten, da es Juden nicht gestattet war, nach Einbruch der Dunkelheit noch auf der Straße zu sein, kam anstelle von Kraus der in der Nachbarschaft wohnende Komponist Viktor Ullmann. Im „Vorzeigelager“ Theresienstadt, wo zur Vorführung beim Kontrollbesuch des Internationalen Roten Kreuzes ein reiches Kulturleben gestattet war, sollten sie sich alle wiedersehen. Ullmann widmete Herz-Sommer seine 4. Klaviersonate, während Kraus seine 6. Klaviersonate in Theresienstadt uraufführte und sich auch später noch als Pianistin und Gründungsmitglied der Musikakademie Tel-Aviv für die Werke Ullmanns und Pavel Haas’ einsetzte. Gleich ihr war Herz-Sommer zwei Jahre nach ihrer Befreiung aus Theresienstadt nach Palästina ausgewandert, wo sie am Jerusalemer Konservatorium unterrichtete und später die dortige Musikakademie mitbegründete.
„Die Musik war unsere Rettung“ heißt ein Buch der Musikwissenschaftlerin Barbara von der Lühe über Gründungsmitglieder des Palestine Orchestra. Auch der mit dem „Academy Award“ 2014 ausgezeichnete Dokumentarfilm über Herz-Sommer „The Lady in Number 6“ trägt den Untertitel „Music saved my Life“. Im Lager spielte sie Klavier, um die Mithäftlinge von ihrem Schicksal abzulenken, andere bezeugen, dass das Musizieren ihnen geholfen habe, unter elendsten Bedingungen ihre Menschenwürde zu bewahren. Doch ihre musikalischen Leidensgenossen – neben Ullmann und Haas war Herz-Sommer auch mit Gideon Klein, Hans Krása und Karel Reiner persönlich bekannt – waren es nicht, für die sie sich als Pianistin engagierte. „In meiner Jugend war Schumann mein Lieblingskomponist, später natürlich Beethoven.“ Doch ihre eigentliche „Rettung“ vor Schwermut und Pessimismus verdankte sie Chopin: Nach Deportation ihrer schwerkranken Mutter war Herz-Sommer in eine Depression verfallen.
„Eine innere Stimme sagte mir, jetzt kannst nur du dir helfen. Und in dem Moment wusste ich, ich muss die 24 Etüden von Chopin spielen, die größte Anforderung an jeden Pianisten.“ Von nun an übte sie stundenlang und empfahl jedem das Klavierspiel als Quelle von Optimismus und guter Laune. „Musik macht uns vergessen. Zeit existiert dann nicht mehr“. Am 24. Februar ist Alice Herz-Sommer friedlich eingeschlafen.