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Natur muss man machen lassen, Kunst muss man bestellen: Clytus Gottwald. Foto: Georg Beck
Natur muss man machen lassen, Kunst muss man bestellen: Clytus Gottwald. Foto: Georg Beck
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Das Leben als Transkription betrachtet

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Clytus Gottwald zum 90. Geburtstag · Von Georg Beck
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Mit dem Neuen ist das so eine Sache. Im einen Fall muss man es durchsetzen gegen den Trott. Im andern Fall ist es gar nicht neu, sondern nur länger aus dem Fokus geraten. Beides hat Clytus Gottwald erlebt, von beidem weiß er zu erzählen. Einschließlich davon, dass jeder Fall ein anderer Kampf ist.

Zum Beispiel, um einmal unkonventionell mit einer Gottwald-Nebentonart zu beginnen, diese Geschichte mit dem Frühlings-Adonisröschen. In der NABU-Ortsgruppe, in der er seit Jahren aktiv ist, hatte er in diesem Punkt so einiges auszufechten. „Die gehört hier nicht hin!“, schallte es ihm regelmäßig entgegen als er vorschlug, das Pflänzchen wieder heimisch zu machen. „Zuviel der Novität!“, hielt man ihm entgegen. Wieso Novität, Leute? Nach der Eiszeit, so der improvisierte Naturgeschichts-Exkurs, habe sich die botanische Wiederansiedlung doch bekanntermaßen ausschließ­lich aus Südasien rekrutiert. Mittlerweile ist das freundliche Röschen zur Frühjahrsblüte auch im Umkreis des schwäbischen Renningen-Immenbangert zu bewundern. Dank Clytus Gottwald.

Den botanischen Sinn hat er übrigens vom Vater geerbt, vom Sozialdemokraten Norbert Gottwald, der im schlesischen Bad Salzbrunn eine konfessionslose Schule leitete bis diese von den Nazis im Machtantrittsjahr geschlossen wurde. Spazier­gänge mit dem Vater, so erinnert sich Clytus Gottwald, konnten ziemlich nervig sein. An bald jeder Ecke blieb der leidenschaftliche Botaniker stehen, um irgendwelche Blütenblätter zu zählen. Eine Bestimmungsmanie, die sich noch steigerte, als sich der Vater auf Farne verlegt hatte, in deren Fall die Sporen abzuzählen waren. Clytus Gottwald lacht. Soweit sei es bei ihm glücklicherweise noch nicht.

Wenn er Ehrungen entgegennimmt, was mit seinen bald neunzig Jahren (20.11.) und seinen kapitalen Verdiensten um die Chormusik häufig vorkommt, fällt das Botanik-Kapitel seines Lebens oft unter den Tisch. Dabei ist es in seinem Alltag ebenso präsent wie die Musik. Und wenn er davon erzählt, wird gerade an diesen Geschichten klar, dass zum Neuen auch ein Sinn für das Neue gehört. Zulassen können, heißt das vor allem. Neulich, so Clytus Gottwald, sei er doch ziemlich überrascht gewesen als er in seinem Gärtchen tatsächlich ein Exemplar der Spezies kanadisches Berufkraut entdeckt habe. Was daran auffällig sei? Das Innenleben, erfährt man. Äußerlich wirke die Pflanze wegen ihrer kleinen weiß-gelben Blüten zwar unscheinbar, berge aber ein ziemliches Heilpotential. Und schon springt Clytus Gottwald auf, um den floralen Neuan­kömmling auch dem Besucher vorzuführen.

Eine Materialfrage

Im nächsten Moment dreht das Gespräch von der Natur, die man machen lassen muss, zur Kunst, die man bestellen muss wie den Voltair’schen Garten. Ein Themen­wechsel, der im Gespräch so flüssig vonstatten geht wie der Übergang vom kanadi­schen Berufkraut zum Thema Beruf und Berufung im Leben des Chordirigen­ten, Komponisten und Musikwissenschaftlers Clytus Gottwald. Nicht zu vergessen, seine langjährige Tätigkeit als Redakteur für Neue Musik beim Süddeutschen Rundfunk sowie seine Zeit als Kantor an der Stuttgarter Pauluskirche, von wo man ihn einst wegen allzu ausgeprägtem Novitätendrang mehr oder weniger unsanft hinaus­komplimentiert hatte. Eine längst vergessene Petitesse, gewiss, die aber doch recht gut klar macht, dass für Clytus Gottwald die Berufung das Bewährungsfeld für den Beruf zu sein hatte. Ohne Sendungsbewusstsein, soviel zeichnet sich auch in der Nachbetrachtung ab, ist die ganze Spannweite dieser Interessen-Verdichtung und Interessen-Vielfalt weder zu machen noch zu verstehen: Vier Jahr­zehnte Musik­paläographie (Erstellen von Handschriftenkatalogen im Auftrag der DFG), drei Jahrzehnte Schola Cantorum Stuttgart (rund 80 Erst- und Uraufführungen), zwei Jahrzehnte Rundfunkarbeit und Kantorendienst und noch einmal vier Jahrzehnte Chorkomposition aus dem Geist der Transkription.

Wie das alles zusammenhängt? Ob es so etwas wie ein Schlüsselerlebnis gibt? Ja, gibt es! In seiner vor ein paar Jahren erschienenen Autobiographie mit dem etwas melancholischen Titel „Rückblick auf den Fortschritt“ spricht Gottwald von einem „Damaskuserlebnis“. Und noch neulich im Gespräch auf der Eckbank im Ditzinger Eigenheim erzählt er davon als sei es gestern gewesen, da ihn diese Erschütterung getroffen habe, die zum Wendepunkt seines Lebens geworden ist. Besagtes Schlüsselerlebnis, nach dem für Clytus Gottwald nichts mehr war wie vorher, fällt in das Nachkriegs-Stuttgart des Jahres 1952. Die Stadt schwer verwundet. Flüchtlinge, die unter der Rosensteinbrücke ihr Quartier aufschlagen, Kochstellen betreiben. Ein Foto von einer der allerersten Straßenbahnen, die das Trümmerfeld Hölderlinplatz quert. Und auch in Stuttgart sind sie aktiv, die kettenbildenden Frauen, die die Ziegelsteine nach vorn zur Wiederverwen­dung durchreichen.

Ein Bild, das geeignet ist, den Blick für Richtung und Konturen von Gottwalds Neuansatz zu schärfen. Was, fragt er sich mitten im Trümmer-Stuttgart, sind denn nun die Bausteine in und für unsere Kunst? Kann es wirklich dasjenige Material sein, von dem die Lehrer-Generation der Meinung ist, man könne es noch einmal zur Wiederverwendung präparieren, gewissermaßen an die jungen Komponisten durchreichen? Ein hyperkritischer Zusammenhang, in dem das erhellende Gottwald-Wort fällt von der „Heimkehr in die Fremde“. Gemeint ist die unangenehme Gefühle auslösende Begegnung mit dem aseptisch-neobarocken Stil der Kurt Thomas-Schule und ihrer Romantik­phobie. Sollte es wirklich so weitergehen? Gottwald, ein profunder Kenner der Musik des Mittelalters und der Renaissance, glaubte schon lange nicht mehr daran. Nur, dass er auch noch nicht zu sagen vermochte, wo hier der Ausgang war aus der „restaura­ti­ven Wurste­lei“.

Ein Moment, in dem ein Redakteurskollege und Pauluskirchen-Kantor die entscheidende Anregung in petto hat. Mit der Einladung von August Langenbeck an das Pariser Vokalensemble Marcel Couraud zu Konzerten und Produktionen nach Stuttgart ist für Gottwald die Wende eingeleitet. Die Botschaft, die alles verändert, liefert ihm im Trümmerjahr 1952 die strahlkräftige Ausführung von Olivier Messiaens „Cinq Rechants“. „Mein Damaskus-Erlebnis“, urteilt Gottwald im Nachhinein. Ein Fortschrittsruck, der im Rückblick schon fast romantisch anmutet: Französischer Geist, der der Singkreis-Schwachheit, der neobarockigen Sterilität aufhilft. In den Worten des Freundes und Zeitweise-Nachbarn Helmut Lachenmann macht Clytus Gottwald eine existentielle Erfahrung.

Was noch kommt

Eine, um die herum er sein ganzes weiteres Leben baut und die ihn bis heute mit Treibstoff versorgt. Sie­he die jüngste Ausgabe des Bonner Beethoven­festes, die immerhin eine Gottwald-Uraufführung im Programm hatte. Mit einem kleinen Beethoven-Liederzyklus nach Goethe-Gedichten hat der Komponist den Reigen seiner Chor-Transkriptionen noch einmal erweitert, einen, der seinen Ruhm in der Szene begründet hat, nicht zuletzt mit Gustav Mahlers unsterblichem Rückert-Lied „Ich bin der Welt abhanden gekommen“. Ein Hit unter den Choristen heutzutage. In Bonn nun hat Gottwald auch ein Beethoven-Lied für Chor transkribiert, das so unscheinbar daherkommt wie das kanadische Berufkraut im Gottwald’schen Garten. Entstanden im Umkreis des Heiligenstädter Testa­ments, spricht es von den Schmerzen unerfüllter Liebe. „Trocknet nicht, trocknet nicht / Tränen unglücklicher Liebe!“

Eine Stelle, bei der sich Clytus Gottwald an Schubert erinnert fühlte, weswegen er in den Schluss von „Wonne der Wehmut“ wie aus einer Eingebung heraus den Schubertton fragender Verhaltenheit einträgt. – Übrigens, für die nicht wenigen Choristen unter den Gottwald-Fans könnte interessant sein, dass Clytus Gottwald noch einiges als unveröffentlichtes Manuskript in seinem Schreibtisch liegen hat. Da kommt noch was.

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