Wer sich in Pezinok, einem Weinbaustädtchen am Fuße der Kleinen Karpaten nach dem dort am 25. September 1908 geborenen Komponisten Eugen Suchon erkundigt, der erntet oft nur ein bedauerndes Lächeln. Bescheiden fiel auch die Würdigung seines 100.Geburtstages in den großen internationalen Feuilletons aus. Und pünktlich zum Jubiläumsjahr sind die letzten CDs mit seiner Musik aus dem deutschen Handelssortiment entfernt worden.
Aber so einfach liegen die Dinge dann doch nicht. Ausgerechnet in dem modernen, quirligen, westwärts gewandten Bratislava genießt der große Rhapsode der slowakischen Psyche höchste Wertschätzung. Hier studierte Suchon, noch bevor er Anfang der 30er-Jahre zu Novák nach Prag ging, Komposition bei Kafenda, hier lehrte er später selbst an der Komenský-Universität und erlebte die Erfolg gekrönten Uraufführungen seiner Bühnenwerke am Nationaltheater, das bis heute eine exzellente Pflegestätte seiner Opern geblieben ist. Doch seine Präsenz im Bewusstsein der Menschen dieser Stadt erklärt sich noch aus etwas anderem: In der hektisch gewordenen Markt- und Konsummetropole regt sich unter der pulsierenden Oberfläche eines aggressiven Kapitalismus machtvoller und dringlicher als draußen auf dem Land das Bedürfnis nach einem geistig-kulturellen Selbst, nach Antworten auf die Fragen des Woher und Wohin der Menschen im noch jungen slowakischen Staat – und diese Antworten finden sich im Œuvre des Komponisten, der rückblickend bekannte: „Ich hatte immer das Schicksal dieser kleinen Nation vor mir.“
Das gilt in besonderer Weise für seine Oper „Krútnava“ (zu deutsch: Strudel, Wirbel der Gefühle). Mit ihr gelang Suchon 1949 der Durchbruch zu einem Personalstil, der die Mittel einer avancierten, modernen Klangsprache mit dem ausgeprägten Bewusstsein folkloristischer Wurzeln verschmilzt. „Krútnava“ ist ein raues Stück aus den slowakischen Wäldern, die Läuterungsgeschichte eines jungen Mannes, der seinen Nebenbuhler ermordet, um seine Angebetete heiraten zu können, dann aber immer stärker unter der Last des schlechten Gewissens leidet und schließlich in einer öffentlichen Selbstanklage seine Schuld bekennt. Ermöglicht wird die ethische Wandlung des Helden durch eine prästabilierte mystische Einheit von Natur, Volk und Gott, die gleichsam die tragende seelische Substanz des Individuums darstellt. Für die Veranschaulichung dieses Welt- und Menschenbildes fällt dem Chor eine Schlüsselfunktion zu: Er repräsentiert nicht nur das Volk, sondern verkörpert auch die innere Stimme des Protagonisten im Zwiegespräch mit der Natur und er agiert wie der antike Tragödienchor als überpersönlicher Kommentator. Suchons Musik mit ihren oft jähen Stimmungsumbrüchen zwischen schwermütiger Verhaltenheit und dramatisch-balladesken Aufschwüngen zeigt die Innenansichten der handelnden Menschen und beschwört die Aura der sie umhüllenden Landschaft. Sie verherrlicht, ohne zu verklären. Darin gründet der Ruhm von „Krútnava“ als slowakische Nationaloper schlechthin, der auch internationaler Erfolg beschieden war. Nicht allein bis nach Berlin und München, auch zu kleineren Bühnen wie Nordhausen oder Osnabrück bahnte sich das Werk seinen Weg.
Man hat Suchon gerne einen künstlerischen Nachfahren des Mähren Leos Janácek genannt. Ein problematischer Vergleich. Zwar ist auch bei Suchon die musikalische Erfindung stark durch die Idiomatik der – in seinem Fall – slowakischen Sprache inspiriert, doch wo Janácek wie unter einem Bann stehend sich immer tiefer in die Ausdruckswelten eines Sprechmotivs und seiner Modifikationen hineinbohrt, da liebt Suchon das plötzliche freie Ausschwingen des vokalen Melos’. Weitaus irreführender als der Vergleich mit Janácek ist aber die Einordnung und Bewertung von Suchons Werk nach den Maßstäben der westeuropäischen Avantgarde. Da konzediert man dann großzügig ein Vordringen des Komponisten bis an die Grenze der Atonalität, um im nächsten Satz seine Musik als anachronistisch, provinziell oder gar kunstgewerblich zu verwerfen. Das ist ein musikästhetischer Beurteilungsmechanismus, an dessen Spätfolgen noch heute die Rezeption ganzer Musikergenerationen aus dem mittelosteuropäischen Raum krankt. Hier teilt Suchon das Schicksal von Komponisten wie Szymanowski oder Enescu, die vom Publikum oft weiterhin nur als Appendix westeuropäischer Großmeister wahrgenommen werden. Die schöpferische Leistung Suchons, sein höchst individueller Weg der Befreiung von den Ausdrucksbeschränkungen des Dur-Moll-Systems durch die Herausbildung unverbrauchter, der slowakischen Volksmusik abgelauschter Tonleitern, lässt sich mit diesem Beurteilungsraster nicht adäquat würdigen.
Die Oper ist für Suchon „die höchste Form des musikalischen Ausdrucks, die der Mensch erreichen kann“ – aber nur „durch Beherrschung aller übrigen Typen der Vokal- und Instrumentalmusik“. Und so sieht man den jungen Studenten die Möglichkeiten einer Synthese von Logik und Emotionalität ausloten, wie in dem Streichquartett des 23-Jährigen, das deutlich die Spuren der Schönberg-Analysen bei Kafenda trägt. Gleichwohl bleiben ihm alle Arten eines objektiven Musizierens von strenger, kühler Haltung wesensfremd. Im Grunde seines Künstlerherzens ist Suchon ein Impressionist – sofern man darunter mehr als nur einen Epochenbegriff versteht – der die Musik als ein Medium der Selbstaussprache der Phänomene begreift: Die instrumentalen Timbres seiner „Metamorphosen“ für großes Orchester (1953) legen dem Hörer den Geschmack heimatlicher Naturerscheinungen beinahe auf die Zunge, während sie den inneren Naturzuständen, den analogen emotionalen Gestimmtheiten eine fast leibliche Präsenz verleihen. Wenn der Komponist später gelegentlich die Nähe zur Zwölftontechnik sucht, dann vor allem deshalb, um neue Farbwerte für sein nationales Espressivo zu erschließen. Dass er über die kontrapunktische Formenwelt dennoch souverän verfügt, davon kündet die „Symphonische Phantasie über B-A-C-H“ für Orgel, Streicher und Schlagzeug (1972), mit der er zudem Reger und Hindemith seine Referenz erweist.
Als künstlerisches Vermächtnis Suchons für die Slowakei und für das ganze Europa ist aber das Musikdrama „Svätopluk“ (1960) anzusehen: ein gigantisches Historiengemälde, das die inneren und äußeren Zwistigkeiten behandelt, die gegen Ende des neunten Jahrhunderts den Zusammenbruch des legendären Großmährischen Reiches von König Svätopluk herbeigeführt haben. Auf dieser Folie setzt Suchon nun seine kühne, höchst aktuelle geschichtsphilosophische Reflexion über die politische und kulturelle Zerrissenheit der westslawischen Völker im Spannungsfeld zwischen West und Ost ins Werk. Kompositorisch hat er dafür ein prunkendes, über weite Strecken byzantinisch zeremonielles Klanggewand erfunden. Die emphatischen, sich oft zu einem visionär verkündenden Gestus erhebenden Gesangslinien sind mit einer ebenso kräftig leuchtenden Motivik im Orchestersatz unterlegt. Mit diesem imposanten Fresko der slawischen Welt wirft Suchon eine der elementaren Zukunftsfragen des europäischen Kontinents auf, denn nach der politischen Osterweiterung steht die kulturelle Einheit, die Wiederentdeckung des slawischen Anteils der europäischen Seele immer noch aus.
Diskographische Notiz
Zu Lebzeiten beklagte sich Suchon über das Schneckentempo bei der Schallplattenveröffentlichung seines Œuvres unter sozialistischen Produktionsbedingungen. Inzwischen hat die kapitalistische „Marktbereinigung“ die ohnehin schmale Suchon-Diskographie weitgehend abgewickelt. Zum Kennenlernen bietet sich noch Zdenek Koslers Einspielung der „Metamorphosen“ an, die Naxos (Marco Polo) zusammen mit der – seinerzeit übrigens auch von Furtwängler dirigierten – „Balladesken Suite“ im Programm hat. Von den exzeptionellen Einspielungen des musikdramatischen Schaffens unter Ondrej Lenárd sind im Internethandel mit viel Glück noch versprengte Restposten zu erhalten:
Krútnava. Gabriela Benacková, Peter Dvorský, Ondrey Malachovský u.a., Slowakischer Philharmonischer Chor, Radio-Symphonieorchester Bratislava, Ondrej Lenárd. 2 CDs, OPUS (1989) 9356 2094-95
Svätopluk. Magdaléna Blahusiaková, Anna Czaková, Ondrey Malachovský, Frantisek Caban, Frantisek Livora u.a., Slowakischer Philharmonischer Chor, Radio-Symphonieorchester Bratislava, Ondrej Lenárd. 3 CDs, OPUS (1986) 9356 1691-93