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Das MKO im Puli Art Center Taichung im Oktober 2010. Foto: Florian Ganslmeier
Das MKO im Puli Art Center Taichung im Oktober 2010. Foto: Florian Ganslmeier
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Das Wunder von München: Sechzig Jahre Münchener Kammerorchester – und ein Ausblick bis 2070

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Musik ist bekanntlich eine Kunst mit engster Verzahnung zu allem Zeitlichen - und Überzeitlichen... Vor diesem Hintergrund liest sich das Statement von Alexander Liebreich, Chefdirigent des grade sechzig Jahre jung gewordenen Münchener Kammerorchesters höchst auf-schlussreich: „...60 Jahre MKO sind auch 60 Jahre einer Metamorphose, der Evolution eines Ensembles, welches sich vom Münchener Traditionsorchester zum europäischen Spitzenorchester entwickelt hat“ formuliert Alexander Liebreich.

„Meine Funktion ist eine unternehmerische und beschleunigende, die Geschichte im Blick - aber nicht als Gepäck; das Selbstverständnis eines Orchesters und damit auch die Zukunft mit zu formen ist immer Pflicht und Herausforderung. Den Vergleich muss man auf internationaler Ebene suchen, trotzdem sollte man seinem Standort Verantwortung zollen, mit dem ´Projekt München´, Konzerten wie dem ´Münchener Aids-Konzert´, den Nachtkonzerten der Moderne in der Pinakothek der Moderne sowie den Kinder- und Jugendprogrammen, seiner Verwurzelung gerecht werden.

Status Quo: Ich bin stolz mit einem hervorragenden Streicherensemble und Ausnahme-Bläsern konzertieren zu können“ resümiert Alexander Liebreich an einem Ort, der nicht zu Unrecht mit dem Logo operiert: MusikMetropoleMünchen. Selbst hier steht der Marsch durch die Partituren im Zeitalter  supersonderextramegalauter specialsounds als Musikersatz nicht vorne an auf den diversen to do lists und Verhaltenscodices. Da werden die Prioritäten mehrheitlich anders gesetzt - heute und auch früher schon. Doch muss dann schon als Phänomen weit über das geschmähte München hinaus hervorgehoben werden, dass es allhier Konzerte gibt mit nicht nur rein  klassischer Musik, dargeboten von drei Weltklasseorchestern unter drei Weltklasse-chefdirigenten, die Publikum ziehen. Nicht zu wenig. Nicht nur GrauKöpfe. Sondern auch junge rote, schwarze, gelbe, grüne, blonde - und auch andere Köpfe. Und das trotz diverser Lamentationes. Die lautstark den Niedergang bejammern. Und die öffentlich-rechtliche Konkurrenz als vermeintlich politisch alimentierte Gegenposition zum kommerziellen Konstrukt... Folglich ist dann mehr als Beethoven, Brahms, Mahler auf dem Programm.

Nicht zuletzt die Münchner Philharmoniker  wurden vor der aktuellen Thielemann-Zeit mehrfach für innovative Programmgestaltung ausgezeichnet. Das ist schön, dass es so ist. Dass Mariss Jansons seine Leningrader und Amsterdamer Sozialisierungen an der Isar exemplifizierend weiterentwickelt - als Chef des BR-Symphonieorchesters. Oder dass Kent Nagano seine musikalische Weltläufigkeit nicht nur in den Akademiekonzerten der Bayerischen Staatsoper im Nationaltheater einbringt - die musikalischen Zeitalter miteinander verbindend. Doch daneben und neben all der anderen total facettenreichen MusikVielfalt von ganz tief unten bis aberwitzig weit oben in der Stadt, von sub- und under- bis top- und highend gibt es in dieser Stadt München obendrauf gewissermaßen noch ein MusikWunder, gepriesen, belobigt, ausgezeichnet für auszuzeichnendes Musizieren ebenso wie für wahrhaft musikalisch-intelligente Programme.

Dass diese Formation im Rentenalter angekommen sein soll, an einem Jahresring, der den  Franzosen Anlass bietet, keinen Finger mehr zu krümmen und dafür das Land lahm zu legen via Streik, lässt sich nicht vorstellen – trotz aller Realität. Und denkbar ist das sowieso nicht, vor der Historie der Sächsischen Staatskapelle etwa oder der ehemals Münchner Hofkapelle (heute Bayerisches Staatsorchester), gut für dreihundertfünfzig Jahre Oper in München. Oper spielt das MKO zuweilen. Konzertant - und aktuell auf der Bühne des Prinzregententheaters als CoProduktion mit der Bayerischen Theaterakademie August Everding und der Hochschule für Musik und Theater München in Mozarts Commedia per musica „Le nozze di Figaro“, dirigiert von Alexander Liebreich. Und da mit Bläser-verstärkung, die jeweils aktuell auf die vorgegebenen  Streicher-planstellen des MKO gewissermaßen draufgemietet wird, zusammengeholt aus Spitzenorchestern (der Welt). Was zuweilen Koordinierungsfragen aufwirft. Im Orchester.

Der Weiterentwicklung des sowieso schon super-professionellen Niveaus ist dieses Verfahren freilich zusätzlich förderlich. Michael Weiss vom Orchestervorstand des MKO, Cellist aus Passion und Fundamentalist in einem Johann Sebastian Bach´schen Sinn („...der Bass ist das Fundament...“), wurde 1987 von Hans Stadlmair persönlich noch ans MKO geholt, ohne verdecktes Vorspielen hinterm Vorhang. Und doch halten sowohl er als auch Gesa Harms, seine junge Kollegin aus der GeigerGruppe - seit zweitausendsieben dabei - viel vom demokratischen Prozedere. Weiss: “Ich bin also ein Vertreter der älteren Generation im Orchester und habe Hans Stadlmair doch noch etliche Jahre erlebt. ER WAR das Münchner Kammerorchester. Viele verbinden seinem Namen heute noch mit dem MKO - obwohl seit fünfzehn Jahren zwei entscheidend andere Persönlichkeiten hier die Leitungsfunktion inne haben, die auch die größtmöglichen Veränderungen herbeigeführt haben fürs Orchester, inhaltlich und organisatorisch.“ Eine Repräsentantin des jüngeren Segments, Gesa Harms ihrerseits meint: „Also wenn wir an die Hierarchie denken ist das bei uns ja so organisiert dass jeder im Orchester wenn er will, ein Mitspracherecht hat.“ Michael Weiss: „Unsere letzten beiden Chefs Christoph Poppen und Alexander Liebreich  und auch das Orchester aus sich heraus haben angestoßen, dass wir wegkommen von diesen rein autokratischen Modellen. Unsere Möglichkeit als Orchestermusiker zur Mitsprache geht, nicht nur gemessen an den fünfziger Jahren, viel weiter. Wir können und sollen bis hinein in die künstlerische Planung mitarbeiten. Klar funktionieren auch wir auf der Basis von Strukturen. Effizient wird es alles dadurch, dass jeder einzelne mitwirken kann, dadurch Verantwortung übernimmt.“

Dass Musik lästig sein kann oder gar irgendwie ausgehört, das wissen wir nicht erst seit Herrn Busch oder dank der Enthüllungen eines gewissen Mauricio Kagel, der ja anempfohlen hatte, Beethoven in solch einer Lebensphase einfach ruhen zu lassen, Auge und Ohr und Hirn zu schonen, andere Reizpotentiale auszuloten. An denen herrscht diesertage wahrlich kein Mangel. Nach Jahren also des LvB-Pausierens erst sollten wir zurück auf Anfang gehen. Ludwig van ist zwar nicht Chart-Point-One beim MKO. Und spielt doch eine Rolle schon von Anbeginn. Was für ein auf neunzehn StreicherPlanStellen fixiertes Ensemble immer ein Problem darstellt, geht es bekanntlich im Sinne eines ambitionierten Repertoires nicht ohne Bläser ab. Wie das gelöst wird -  siehe oben. Als Folge auch der Intelligenz und Musikalität förderlichen Auseinandersetzung zurückliegender Jahre so zwischen historischer Aufführungspraxis und der Musik dieser Tage, gilt es klar zu  erkennen „dass es Stücke oder auch Werke gibt aus der aktuellen Produktion, die keinen Bestand haben. Das ist Teil dieser Arbeit. Wir haben das selber lernen müssen - meine Generation mindestens, denn Gesa findet das vor -, das ganz authentische, unvoreingenommene Arbeiten eben mit der neuen Musik. Diese Arbeit an der neuen Musik wirkt unglaublich zurück auf die Werke, die wir zu kennen glauben, Beethovens Vierte zum Beispiel und der eine Bach, der andere Mozart. Nach so einem neuen Stück, einem Xenakis vielleicht, oder moderner, ist alles anders. Wir spielen Xenakis anders. Und auch den Händel. Das ist etwas, das im Konzert passiert. Ein Schärfen. Ein Anschärfen. Ich glaube schon alleine dieser Aspekt ist wichtig an neuer, an neuester Musik“ sagt Michael Weiss. Im runden Geburtstagsjahr zwanzigzehn gibt es - wie in mittlerweile vielen Jahren zuvor - eine programmatische Leitlinie. Jetzt lautet das Motto ARCHITEKTUR. Aus gutem Grund. Und aus selbigem lädt Alexander Liebreich, Chefdirigent und Inspirator, herausgehobene Repräsentanten der BaukünstlerZunft ein, für jeweils ein Gespräch vor dem Konzert. „Große Architekten sind große Komponisten, Meister von Proportion und Rhythmus.

Im Gespräch mit ihnen möchte ich die Parameter der Künste vergleichen, über die natürlichen Gesetzmäßigkeiten von Symmetrie und Ordnung und deren beide verbindende Ästhetik reden und die Bedeutung des Raums für den Klang der Musik erörtern. Paul Robbrecht, Sou Fujimoto und Daniel Libeskind beziehen sich in ihren ´Baukunstwerken´ auf Erfahrungen, die sie im Beobachten der Natur, im Hören von Musik, in der Zusammenarbeit mit großen Musikern oder sogar im eigenen professionellen Musikstudium gewonnen haben“ präzisiert Alexander Liebreich. Der Klangraum aller Musik ist mittlerweile ebenfalls globalisiert. Was sich auch in entsprechend angelegten Tourneen des Orchesters auskristallisiert. Mal in Diensten des Goethe-Instituts, das von der Münchner Zentrale  aus deutsche Kultur, von der deutschen Sprache ausgehend, dem Rest der Welt erlebbar macht. Mal im Strukturmodell eines privatwirtschaftlich agierenden Konzertunterneh-mers vor Ort, aktuell in Südostasien. Dorthin nämlich ging die Dienstreise im Herbst 2010. Was weder für die Musiker noch für Liebreich terra incognita ist. Und auch für das asiatische Publikum ist das Münchener Kammerorchester schon lange kein Geheimtipp mehr. Die musikbegeisterten Menschen dort haben Vergleichsmöglichkeiten. Und sind - gerade deswegen - begeisterte Fans des Münchener Kammerorchesters. Obendrein übernimmt  Liebreich ab 2011 die Künstlerische Leitung des Tongyeong International Music Festival (TIMF) in Südkorea. Zentrum des musikalischen Agierens bleibt für den gebürtigen Regensburger freilich die Zentrale Prinzregentheater in München mit der aktuell besten Akustik der Stadt.

Wie sich das Orchester vor der Kulisse seiner Geschichte mit Christoph Stepp, Hans Stadlmair, Chrisoph Poppen und Alexander Liebreich seine Zukunft vorstellt, präzisiert Michael Weiss, Sprecher des Orchesters und Cellist im Vorstand mit einer visionären Vorausschau auf weitere sechzig Jahre: „Ich glaube, in sechzig Jahren, 2070 also, haben wir drei fest verkaufte Abonnementreihen, unsere regelmäßigen Serien in Bayerischen Städten glitzern und perlen nur so vor sich hin und über uns und sich hinaus. Und im Verbund mit fünf global positionierten Metropolen ist das MKO überhaupt nicht mehr wegzudenken aus dem weltweit vernetzten Betrieb. Wir haben dann ein wunderbares, wunderschönes, akustisch wundervoll optimales  Konzerthaus mit Probenraum hier in München-Mitte gebaut, worum uns nicht nur (aber auch) die Japaner beneiden. Wir alle, die wir im Moment hier sitzen, werden das mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht erleben. Aber freuen tun wir uns trotzdem alle darauf.“ Wenn ein kommerzieller Konzertveranstalter mangels eigener experimenteller Begabung oder Veranlagung oder geistiger Weite seinem Konzertpublikum Jahrzehntelang immer die gleiche und dieselbe Musik anbietet und dieses Publikum, das in Ermangelung diverser Alternativen da dann doch hingeht, weil es ja Musik hören will, als rückständig und konservativ beschimpft, ist das nicht in Ordnung. Dass sich solche Haltungen - in München zum Beispiel - geändert haben, ist nicht zuletzt auch dem MKO zu danken, das so für eine neue Ordnung steht - und weiterhin sorgt. Ja, nicht zuletzt daraus, aus dieser Lebendigkeit, aus diesem Fragen, aus diesem Finden von Antworten resultiert das Wunder von München. Das schenkt nicht der Liebe Gott. Und auch kein noch so spendabler Sponsor (von denen sich zahlreiche Betriebe, Institutionen, Freunde finanziell durchaus aus dem Fenster hängen). Das schenken sich die Musiker und ihr jeweiliger Chef selbst - durch höchste Professionalität, mit Leidenschaft, Intelligenz, Musikalität. Durch Gehaltsanpassung nach unten, auch Flexibilisierung genannt. Mit der Option nach oben, je nach Lage. Und sich der sozialpolitisch brisanten Komponenten durchaus bewusst.

Grundlage für all solches Variieren ist immer Leistung, ist Begeisterungsfähigkeit. Nein, das schenken sie sich nicht selbst. Das schenken sie uns. Dieses wahrlich unbezahlbare Glück, ins Konzert zu gehen, glattgebügelt und ausgelaugt von der Alltagsroutine. Und herauszukommen wie die Alten Griechen. Die von  ihrem Theater Katharsis erwarteten. Sie erlebten solches. Vor zweieinhalbtausend Jahren. Nicht mehr und nicht weniger erleben wir  jetzt, wahrlich auf der Höhe dieser Zeit. Und das alles bedarf dann doch auch der BWL-fundierten Konstellation. Florian Ganslmeier, Geschäftsführer des Münchener Kammerorchesters, MusikDenker und Ermöglicher, Visualisierer und gestalterisch kommunizierender Anreger hat so seine eigenen Gedanken zu all dem: „Ein festes Kammerorchester mit 26 dauerhaft angestellten Musikern, einer weit jenseits des vorherrschenden Mainstreams und des Konsensdenkens vieler Veranstalter liegenden Programmgestaltjung zu einer Gehaltsstruktur, die annähernd dem stets geforderten Höchstniveau der musikalischen Darbietung und der im traditionellen Orchesterbetrieb kaum vorstellbaren Arbeitsbelastung  gerecht wird, zu unter- und vor allem zu erhalten, ist auch unternehmerisch ein steter Parforceritt - heute vielleicht mehr denn je zuvor in der 60jährigen Geschichte unseres Orchesters.

Gegenüber den großen voll subventionierten Orchesterapparaten  wie auch den projektweise arbeitenden und kalkulierenden Spezialensembles tritt man zunächst immer mit einem Handicap an. Der große Erfolg, den das MKO heute aufweisen kann - mit Abonnementsteigerungen von mehr als  40 Prozent in den letzten vier Jahren, mit hochkarätigen Gastspielreisen und CD-Aufnahmen und einem stetig wachsenden internationalen  Renommee liegt, sicher auch in der wachsenden Zahl der privaten Unterstützer und in der notwendigen Solidarität der öffentlichen Förderung. Sein eigentlicher Grund ist wohl der Mut zum musikalischen Wagnis, den das MKO sowohl in seiner Programmkonzeption als auch auf der Bühne immer wieder beweist, und in der Intensität des Konzerterlebnisses selbst, die dieses Orchester dem Publikum auf einmalige Weise vermittelt.“ Sagt Florian Ganslmeier. Ganz klar pro domo. Doch auch das ist typisch MKO: Da ist nichts geschönt. Das entspricht der Wahrheit, formuliert einer von außen, einer, der nicht vom Betrieb getrieben, davon blind und taub geworden ist. Einer, der sich auch dank MKO neue Wahrnehmungsebenen des emotionalen und des intellektuellen Terrains nach langen Märschen durch wüstes Land eröffnen konnte.

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