Am 8. Februar, kurz nach seinem siebzigsten Geburtstag, ist der Komponist und Posaunist Friedrich Schenker in Berlin gestorben. Als einer der profiliertesten Köpfe unter den Komponisten in der ehemaligen DDR und als Gründungsmitglied der Leipziger „Gruppe Neue Musik Hanns Eisler“, hat er auf das Musikleben in Deutschland vor und nach der „Wende“ einen nachhaltigen Einfluss ausgeübt.
Die besten Totengräber der DDR waren bekanntlich ihre eigenen Bürger, obwohl sich viele dieser Rolle nicht einmal bewusst waren – im grauen sozialistischen Alltag wollten sie sich einfach einen Raum erobern, in dem sie wenigstens ansatzweise ihre individuelle Freiheit verwirklichen konnten. Auch die „Gruppe Neue Musik Hanns Eisler“, mit der Friedrich Schenkers künstlerische Biografie eng verwachsen war, entstand aus solchen Motiven. Schenker rief sie 1970 zusammen mit dem Oboisten Burkhard Glaetzner ins Leben. Sie waren beide Musiker im Leipziger Rundfunk-Sinfonieorchester und wollten damit einen Kontrapunkt zu dem vom parteifrommen Komponistenverband kontrollierten Musikleben setzen: Aufführungen von Werken der bis dahin in der DDR kaum internationalen Avantgarde, aber auch der jüngeren Komponistengeneration im eigenen Land, die innerlich längst Abschied genommen hatte von Sozialistischem Realismus, Bitterfelder Weg und einer Sinfonik, die unablässig den Aufbruch der Arbeiterklasse beschwor.
Die Gründung der Gruppe fiel in eine Zeit des Umbruchs. Ein Jahr später, 1971, sollte der säuerlich lächelnde Erich Honecker den alten Stalinisten Ulbricht als Parteiführer ablösen und auf dem 8. Parteitag der SED die Formel vom „allseitig gebildeten sozialistischen Menschen“ propagieren. „Beat-Musik“ und Blue Jeans, Symbole kapitalistischer Dekadenz, wurden erlaubt, und Genosse Honecker ließ verlauten, es dürfe „auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben“ – natürlich nur, „wenn man von der festen Position des Sozialismus ausgeht“.
Dass die Musiker der Leipziger Gruppe fest im Sozialismus verankert waren, darf man bezweifeln. Das mit den Tabus ließen sie sich aber nicht zweimal sagen. Die Berufung auf Hanns Eisler und dessen dialektische Sicht auf das „bürgerliche Erbe“ diente ihnen dabei als argumentatives Schutzschild gegen mögliche Kritik von oben. Flankenschutz gewährten notfalls auch unantastbare Größen wie der Dirigent Herbert Kegel oder Paul Dessau, dessen Meisterschüler Schenker von 1973–75 war. So war es dem Ensemble möglich, unter den misstrauischen Blicken der Parteioberen in zwanzig Jahren über 200 Werke uraufzuführen und zahllose andere als DDR-Erstaufführung zu spielen, von Ives und Webern bis Xenakis und Walter Zimmermann. Es war ein unterschwelliges Protestpotenzial von Langzeitwirkung. Vier Jahre nach dem Fall der Mauer löste sich das Ensemble auf. Es hatte seine Funktion erfüllt.
Die andere DDR
Friedrich Schenker, einer seiner führenden Köpfe, vermied auch als Komponist die offene politische Stellungnahme; es wäre künstlerischer Selbstmord gewesen. Seinen Widerstand gegen das System artikulierte er mit den Mitteln der Kunst, und darin erwies er sich als bauernschlauer Dialektiker mit einem Intellekt, der ebenso scharf und witzig sein konnte wie der extrem biegsame Klang seiner Posaune. Der Bezug des Ensembles auf Eisler war für ihn ein „Symbol für fortschrittliches, konstruktives Musikdenken der Gruppe, der Ausdruck einer kritischen Haltung zur Dummheit in der Musik“. Das berichtet Frank Schneider als Chronist der Gruppe in einer 1990 in Leipzig erschienenen Dokumentation über das Ensemble. Wo diese Dummheit – ein Ausdruck Eislers – anzusiedeln war, konnte jeder für sich selbst beantworten. Jedenfalls nicht in jener sozialistischen Utopie, die in Schenkers Hinterkopf rumorte.
Als Künstler und als Mensch verkörperte Schenker die „andere DDR“ – die Kraft zum schöpferischen Handeln auch unter widrigen Umständen und den beharrlichen Widerstand des Individuums gegen die Anmassung eines bürokratischen Herrschaftssystems. Das drückte sich auch in seiner Erscheinung aus: Von hünenhafter Konstitution, Marathonläufer, hochgradig trinkfest und auch sonst den Freuden des Lebens nicht abgeneigt.
In seinen Händen erschien die Posaune wie ein Spielzeug, das er allerdings mit hoher Artistik zu behandeln wusste. Mit unbändiger Energie rüttelte er an den Gittern der vorgegebenen Formen; in seinen Posaunensoli – experimentelle Performance im besten Sinn – ging er an die Grenzen seiner physischen Möglichkeiten. Barocke Üppigkeit war ein anderer Grundzug seines Charakters. Sie schlug sich in struktureller Überfülle und oft in Riesenbesetzungen nieder. Etwa in seiner anderthalbstündigen, 1985 unter Kurt Masur in Leipzig uraufgeführten „Michelangelo-Sinfonie“, einem Werk von monumentalen Dimensionen, das Fragen von Leben und Tod mit der Künstlerproblematik verknüpft.
Krise nach der Wende
Nach dem Ende der ostdeutschen Diktatur kam Fritz Schenker wie viele andere erst einmal in die Krise, doch ließ sich seine Schaffenskraft nicht bremsen. In der Freiheit des Kapitalismus suchte er nun nach neuen Ansatzpunkten für seine künstlerische Kritik an der Macht. Das war ungleich schwieriger als im morschen Sozialismus. Die Kritik artikulierte sich vorwiegend innermusikalisch, zunächst in einem ironisch „Divertimento“ genannten, strukturell vollgepackten Ensemblestück und im Orchesterwerk „...ins Endlose...“ nach Kafkas Erzählung „Amerika“. Das Musiktheater rückte nun in sein Blickfeld. Der Zweiakter „Kalter Krieg oder Les Liaisons Dangereuses“ (Libretto: Karl Mickel) thematisiert die menschlichen Beziehungsdesaster, „Johann Faustus“ ist die späte Vertonung von Eislers in der DDR umstrittenem Libretto. Das Hauptwerk der späten Jahre ist die „Goldberg-Passion“, ein Oratorium über das Geschehen in den Dörfern des Erzgebirges zum Ende des Zweiten Weltkriegs: Hineinleuchten in die Tiefen der deutschen Geschichte.
Als herausragender Musiker hatte Schenker zu DDR-Zeiten gelegentlich Ausreiseerlaubnis. Die Bundesrepublik war zunächst noch tabu. Doch bereits 1973 trat er mit seinem noch jungen Ensemble beim Warschauer Herbst auf. Einige Jahre später folgten Konzerte im roten Oberitalien und im schweizerischen Boswil, wo die Gruppe zu den Kompositionsseminaren eingeladen war. Über die Systemgrenzen hinweg kam man sich menschlich schnell näher, tagsüber bei der Arbeit, nachts beim Wettschnarchen im Dreibettzimmer. Und Abends beim obligaten Wein lernte man Fritz Schenker als unterhaltsamen und absolut integren Charakter kennen. Seine Bemerkung „Wenn wir zurück sind, müssen wir eben so einen blöden Bericht schreiben, und du kommst darin auch vor“, nahm ich vertrauensvoll zur Kenntnis.
Der politischen Schizophrenie, der er ausgesetzt war, hat sich Fritz Schenker kämpferisch gestellt und sich damit seine innere Freiheit bewahrt. Darüber geben seine Werke Auskunft. Doch mit seiner leiblichen Existenz zahlte er einen Tribut, und in den letzten Jahren wies seine Lebenskurve gefährlich nach unten. Das Ende kam zwangsläufig, aber es war trotzdem zu früh.