Es war die bis dato längste Menschenkette aller Zeiten und sie ging ins Guinness-Buch der Rekorde ein. Was war geschehen? Am 23. August 1989 versammelten sich rund zwei Millionen Balten auf den Straßen. Sie reichten sich die Hände und bildeten eine Kette, die von Tallinn über Riga bis nach Vilnius reichte – mehr als 600 Kilometer lang. Friedlich und, vor allem, singend machten sie den sowjetischen Besatzern unmissverständlich klar, dass sie sich die staatliche Unabhängigkeit zurückwünschten, die sie am 23. August 1939, also genau 50 Jahre früher, mit dem Hitler-Stalin-Pakt praktisch eingebüßt hatten.
Als „Baltischer Weg“ ging diese Menschenkette in die Geschichtsbücher ein. Welche identitätsstiftende Bedeutung das Singen für die Esten, Letten und Litauer noch heute hat, zeigen die Liederfeste der drei Hauptstädte, die zu den weltweit größten ihrer Art zählen. 2003 erklärte die UNESCO diese baltischen Feste zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit. Dasjenige von Riga reicht bis ins Jahr 1873 zurück. Es findet alle fünf Jahre statt, zuletzt 2018, und bringt (nicht nur) Werke der lettischen Volksmusik zur Aufführung, die, wenn auch im Entschwinden begriffen, dort heute noch lebendig ist. Wie kann man diese Tradition für die nachfolgenden Generationen attraktiv erhalten? Das fragten sich auch die Macher des Sommerfests „Vasarnica“, das vom Lettischen Nationalen Sinfonie-Orchester, kurz LNSO, ausgerichtet wird und dieses Jahr in der Stadt Rezekne (Region Lettgallen) stattfand. Seit 2013 verfügt Rezekne über die Konzerthalle GORS, die in architektonischer und akustischer Hinsicht Maßstäbe setzt und – genau wie die nicht minder beeindruckenden Konzerthallen in Cesis (2014) und Liepaja (2015) – zum großen Teil mit Mitteln der EU zur Dezentralisierung der Kultur gebaut wurde. Diese EU-Mittel sind der Hauptgrund, warum es in der Peripherie von Lettland bessere Konzerthallen gibt als in der Hauptstadt.
Die „Große Gilde“ (in der Landessprache „Liela gilde“) ist zwar buchstäblich altehrwürdig, denkmalgeschützt und von außen betrachtet beeindruckend, die „inneren Werte“ lassen aber sehr zu wünschen übrig. So ist nicht nur die Akustik deutlich schlechter, es fehlt dem Gebäude vor allem Fahrstühle und eine vernünftige Infrastruktur, was dazu führt, dass gehbehinderte Menschen und Rollstuhlfahrer praktisch ausgeschlossen sind. GORS ist im Unterschied dazu in jeder Hinsicht optimal konstruiert. Die Stadt Rezekne hatte sich laut Orests Silabriedis, Chief Editor des LNSO, sehr darum bemüht, den Zuschlag für GORS zu bekommen und hatte das Gebäude dann nicht nur in kurzer Zeit, sondern auch im anvisierten (und vergleichsweise günstigen) Kostenrahmen bauen lassen. „Von den insgesamt rund 19 Mio. Euro Gesamtkosten hat die Stadt 11 Mio. Euro gezahlt, vom ‚European Regional Development Fund‘ kamen ca. 7 Mio. Euro und der Staat Lettland hat 700.000 Euro zugeschossen“, so Silabriedis.
Hier also ging am 23. August ein denkwürdiges Konzert über die Bühne: Sechs junge, von den drei Juroren Marco Stroppa, Andris Dzenitis und Orests Silabriedis ausgewählte Komponisten aus unterschiedlichen Ländern waren aufgefordert, unter der Leitung von Janis Stafeckis ihre je rund achtminütigen Werke für eine exakt definierte, dabei ungewöhnliche Kammerbesetzung (Flöte, Violine, Viola, Cello, Kontrabass, Schlagzeug, Cembalo) zu präsentieren. Jedes dieser Werke – und genau das war die spannende Vorgabe der Initiatoren – hatte sich auf ein Lied der lettgallischen Volksmusik zu beziehen; wie genau, blieb den jungen Komponisten überlassen. Diese hatten zuvor eine kleine Auswahl solcher Lieder als Audiodatei erhalten, von denen sie eines auswählen durften. Die klingenden Resultate begeisterten und verblüfften gleichermaßen, zumal jeder der sechs jungen Künstler einen völlig anderen, dabei höchst originellen Weg gefunden hatte, Elemente des jeweiligen Volkslieds – Rhythmus, Melodie, Klangfarbe oder Stimmung – in die eigene Arbeit einzuflechten. Den Publikumspreis gewann schließlich das Werk der Lettin Sabine Kezbere, die sich in der Musikszene nicht nur ihres Landes schon einen Namen gemacht hat.
Umrahmt wurden die sechs Uraufführungen von zwei Werken des aus der Region Lettgallen stammenden Janis Ivanovs (1906–1983), die je am Beginn und Schluss des Abends erklangen. Ivanovs, der zu Lettlands bedeutendsten Komponisten gehört, nimmt insbesondere in seinem Frühwerk Bezug auf die lettgallische Volksmusik (seine 6. Sinfonie von 1949 trägt den Titel „Lettgallen“). Er hat damit einen Weg aufgezeigt, wie eine Tradition fortgeschrieben und selbst dann am Leben erhalten werden kann, wenn sie ihre identitätsstiftende Funktion unter den Bedingungen der Globalisierung zunehmend verliert. Den Abend mit Ivanovs’ Musik zu starten und zu beenden und die sechs neuen Volksliedbearbeitungen dabei buchstäblich ins Zentrum zu stellen, war von den Veranstaltern auf jeden Fall ein klares Statement.
„Carion Triptych“
Zur großen Überraschung des Festivals geriet, dass diese Idee am nächsten Tag sogar noch getoppt werden konnte, zumindest, was die äußeren Dimensionen betrifft. Auf dem Programm am 24. August stand die Uraufführung eines Orchesterprojekts zum Jubiläum „30 Jahre baltischer Weg“, das das Bläserquintett „Carion“ (Dóra Seres, Flöte; Egils Upatnieks, Oboe; Egils Šefers, Klarinette; David M.A.P. Palmquist, Horn und Niels Anders Vedsten Larsen, Fagott) initiiert und gemeinsam mit dem LNSO und dem Odense Sinfonieorchester in Auftrag gegeben hatte. Da die Mitglieder des Quintetts aus Schweden, Dänemark und Lettland stammen, wurden drei Komponisten aus genau diesen Ostseeländern – Britta Byström (Schweden), Anders Nordentoft (Dänemark) und Andris Dzenitis (Lettland) – mit der Komposition je eines Satzes für die höchst unkonventionelle Besetzung Bläserquintett und Sinfonieorchester beauftragt. Die einzigen Vorgaben an die Komponisten lauteten: die Musik sollte nicht zu komplex sein und pro Satz nicht länger dauern als 10 Minuten. „Die moderne Musik ist oft schwierig. Also haben wir uns gefragt, wie wir die komplexen Ideen auf eine für das Publikum verständliche Weise vermitteln können – mit allen Elementen: Musik, Video, Bewegung“, erklärt Egils Šefers, Klarinettist des Ensembles sowie des LNSO. „Britta, Anders und Andris haben uns ihre Stücke wirklich auf den Leib geschrieben und den baltischen Background des Projekts dabei ganz unterschiedlich ins Werk gesetzt.“
Anders Nordentoft beschreibt seine Herangehensweise so: „Mein Stück ist ein Tribut an die Freundschaft und Einheit der baltischen Länder. Die Menschenkette von 1989 ist das Symbol dafür. Musikalisch umzusetzen versucht habe ich das, indem mein Stück wie ein Tanz strukturiert ist, bei dem jeder Solo-Bläser seine Stimme an das nächste Instrument weiterreicht. Am Ende verbleibt die Stimme der kleinen Flöte. Ihr zarter Gesang hat das letzte Wort.“
Wie gut sich die drei Sätze zum „Carion Triptych“ – so der Titel des Werks – rundeten, zeigte die Uraufführung mit dem LNSO und Carion unter der Leitung von Andris Poga vor spürbar begeistertem Publikum. „Wir sind eine kleine Nation“, sagte Šefers am Ende des Konzerts. „Rein ökonomisch gibt es für Lettland keine Existenzberechtigung, nur kulturell: unsere Sprache, unsere Musik und unsere Geschichte.“ Das LNSO-Festival hat diese immateriellen Kulturgüter erfahrbar gemacht und die Ereignisse von 1989 auf musikalische Weise intensiv in die Erinnerung zurückgeholt.
Glückliches Baltikum?
Natürlich ist der „Baltische Weg“ in die Freiheit nicht oder nur sehr bedingt mit demjenigen von Deutschland und der ehemaligen DDR vor 30 Jahren zu vergleichen. Gleichwohl gibt die Art und Weise, wie Lettland seine kollektive Erinnerung an die politischen Ereignisse der späten 80er-Jahre musikalisch zelebriert und buchstäblich „ins Werk“ setzt, zu denken. Warum – diese Frage muss zum Schluss erlaubt sein – gibt es zu den Feierlichkeiten rund um den 30. Jahrestag des Mauerfalls nichts Vergleichbares in Deutschland? Schaut man, was beim Mauerfall-Konzert am 9. November am Brandenburger Tor geboten wird, wirkt das bei allem angekündigtem Riesen-Brimborium „mit Barenboim, Bands und Bühnenshow“ (siehe den entsprechenden Artikel auf berlin.de) vergleichsweise austauschbar. Auch das Jubiläumskonzept der Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“ (vom Bundesministerium des Inneren) hat in dieser Hinsicht nichts zu bieten. Schade für die Musik, vor allem für die so genannte „klassische Musik“. So etwas nennt man dann wohl eine verpasste Chance.
Der Autor besuchte das Festival auf Einladung des Lettischen Nationalen Sinfonie-Orchesters.