Mit Raine Maida könnte man stundenlang reden. Tagelang wahrscheinlich. Dabei Bier trinken, durch die Wälder Kanadas streifen und Stunde um Stunde auf Berggipfeln und ins Tal blickend verbringen. Raine Maida ist ziemlich sicher der beste Kumpel, den wir aus Literatur und Medien kennen. Er hat was zu sagen, ist ein Hinterfrager, kann lachen, leiden und Emotionen zeigen. Seine Standpunkte nimmt man ernst. So weit, so gut. Gäbe es da nicht ein klitzekleines Problem:
Auf Raine Maida lastet seit nun zehn Jahren die Bürde, Sänger und Songschreiber der kanadischen Rockband Our Lady Peace zu sein. Eine zerfleischende Position, die alle weiteren Beteiligten – Duncan Coutts (Bass), Jeremy Taggart (Schlagzeug) und Steve Mazur (Gitarre) – viel abverlangt, sie oft bis an die Grenzen des Wahnsinns treibt. Musikalisch wie menschlich. Nicht umsonst liegt das letzte Our-Lady-Peace-Album 1165 Tage zurück. Oder 6000 Gigabyte Speicherplatz auf unzähligen Festplatten. Oder Ausgaben in Höhe von 11.000 Dollar für Essen während der 1.165 Tage. Oder zehn verschiedene Aufnahmestudios. Oder 220 Flugstunden, um „Healthy in Paranoid Times“ aufzunehmen. Sogar der Ausnahmeproduzent Bob Rock (u.a. Metallica, Bon Jovi) wurde während dieser Zeit gefeuert. Die Aufnahmen balancierten ständig zwischen dem Ende der Band und dem nächsten wichtigen Schritt. „Wenn ich so zurückdenke, gingen wir damals an die Arbeit, um ein Album zu machen, das uns definieren sollte. Auf keinen Fall sollte das Album fürs Radio sein oder in eine Schublade passen. Wir haben viele Songs aufgenommen, Verschiedenes versucht und viel Geld ausgegeben. Frustration machte sich breit. Wir haben Bob Rock gefeuert, der eigentlich fast als Bandmitglied fungierte. Die Band hat sich aufgelöst und fand wieder zusammen. Wir haben in L.A. aufgenommen, in Toronto und was weiß ich wo. Keine Höhen und Tiefen wurden ausgelassen.“ Raine Maida unterbricht seine Erzählungen immer wieder, holt kurz Luft, seufzt und redet sich die Tiefen von der Seele.
Schon der erste Song des Albums, „Angels/Losing/Sleep“, weist auf diese Spannungen in der Band und im Aufnahmeprozess hin. Bedächtig beginnt Raine Maidas Gesang, uns in den Schlaf zu singen, bevor fiese Gitarrenriffs das Wogen jäh unterbrechen. Wie kam die Band insgesamt mit diesem Spannungsumfeld zurecht? Resignation, Wut, Motivation? „Weder noch“, erklärt Raine Maida. „Es war sicher für alle hart. Wir wollten das Album schneller machen, als wir konnten. Das hat Druck erzeugt. Wir haben uns die 43 fertigen Songs angehört und waren der Meinung, dass nicht alle Albumtauglich sind. Und dieses Mal sollten alle Songs cool sein; nicht nur drei oder vier wie auf früheren Alben. Wenn die Spannungen zu groß wurden, haben wir die Arbeit unterbrochen und gingen uns wochenlang aus dem Weg.“ Da staunt man. Schließlich ist OLP keine Anfängerband. Zehn Jahre haben sie im Kreuz. Wobei eventuell einige der Bandprobleme hausgemacht waren. Jeder der Musiker war nebenbei in andere Projekte verstrickt. Raine Maida stellte sich als aktives Mitglied der Benefiz-Organisation „War Child“ zur Verfügung und bereiste in den vergangenen drei Jahren den Irak, Darfur und den Sudan, um bei den Dreharbeiten zu Dokumentationen über die Armut, das Leid und den Stolz der Menschen in diesen Gebieten zu helfen.
Da bleiben Umdenkprozesse nicht außen vor. „Klar haben wir uns das Leben selbst schwer gemacht“, gibt Raine Maida zu. „Als ich nach ein paar Wochen Sudan ins Studio kam und meine Texte hörte, habe ich den anderen gesagt, dass diese Texte zu den Songs mir nichts mehr bedeuteten und ich sie so nicht singen könnte. Es müssen drei neue Songs her. Ich dachte ehrlich gesagt, dass sie mich umbringen, aber man verändert sich, wenn man in diesen Kriegsgebieten ist. Die Band hat das verstanden, nur wussten wir, dass uns das wieder sechs Monate im Zeitplan nach hinten wirft.“
Und so liegt in jedem Song das unerschöpfliche Spektrum der OLP-Band-emotionen. „Where are you“ ist da zu nennen. Ein schneller moderner Rocksong, der sich zum Ende hin in einen Midtempo-Soul-Refrain auflöst, der das gesamte Glück der Band zu reflektieren scheint. Erlösung quasi. „Absolut richtig“, pflichtet Raine Maida bei. „Doch exakt an dieser Stelle sieht man, wie wir an diesem Album gearbeitet haben. Nichts wäre einfacher gewesen, als diesen Song mit diesem Rockriff und seiner Schnelligkeit bis zum Ende weiterlaufen zu lassen. Aber wir fanden eine andere Lösung. Das verleiht dem Song Tiefe und ist symbolisch für das Album.“ Und bei dieser Tiefenforschung begannen OLP, mit den Refrains zu spielen. Oft werden die Refrains kurz angedeutet, bevor eine neuerliche Strophe oder ein Pre-Chorus die Spannung steigert. „Wipe that smile off your face“ oder „Love and Trust“ sind da Paradebeispiele. Man spielt mit dem Refrain, lässt ihn aber zur richtigen Zeit hochgehen. „Ja, ja, ja“, meint ein enthusiastischer Raine Maida. „Exakt das meine ich mit ‚an einem Album arbeiten‘. Die Songs wären im normalen Schema F nicht schlecht. Aber durch das Verzögern werden sie interessant, gewinnen an Perspektive.“
Ein weiter Einblick, den Raine Maida gewährt. Fehlt noch die Quintessenz, sein Fazit. Nicht zur Platte, eher zum Leben als Musiker. Oder wie der Musiker mit dem Menschen lebt. „Wenn ich Eines gelernt habe in den zehn Jahren OLP, dann, dass man den Beruf Musiker nicht als selbstverständlich hinnehmen darf. Man kann es sich einfach machen. Song um Song. Album um Album. Beim Album ‚Gravity‘ haben wir das so gemacht. Wie gesagt, drei gute Songs auf einem Album können reichen. Aber sich dem zu stellen, was eigentlich machbar ist, das ist die Herausforderung. Wir haben es gewagt und unserer Ansicht nach ist uns das mit ‚Healthy in Paranoid Times‘ gelungen. Wir haben uns eben Zeit genommen.“