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Der Komponist Dieter Schnebel feiert am 14. März seinen 75. Geburtstag

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Alles Bedeutende bewegt sich am Rande; dort wo man es meist nicht vermutet. Gerade einmal knapp fünf Jahre, genau zwölf Tage, ist Dieter Schnebel jünger als Pierre Boulez. Dennoch scheint eine Generation dazwischen zu liegen. Boulez ist der vielleicht wesentlichste Protagonist eines strukturell klanglichen Denkens, das er mitunter in kristalline Reinheit trieb. Bei Schnebel ging es schon immer, sieht man einmal von ein paar seriellen Frühversuchen ab, unrein, kontaminiert zu.

Von unbefleckter Empfängnis hielt der evangelische Theologe noch nie etwas, viel mehr schon vom Chaos unverständlichen – und auf anderer Ebene dann doch wieder verständlichen – Sprachengewirrs, wie es im frühen Meisterwerk „Glossolalie“ des damals 30-jährigen Komponisten so bestechend mit Witz und existenzieller Tiefe in Szene gesetzt wurde. Seither wuchs sein Gesamtwerk zu unübersehbarer Fülle, zu einem Irrgarten der verschiedenen Ansätze und Perspektiven, als wolle er durch seine Lebensarbeit das Durcheinander der „Glossolalie“ ins Unendliche prolongieren. Das hat etwas Unersättliches, denn einer chaotischen Struktur ist immer noch eine fraktale Brechung einzuschreiben. 1992 hatte Schnebel in Donaueschingen seine zweieinhalbstündige „Sinfonie X“ vorgestellt, die sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Welt des Klingens als Total zu erfassen, zu systematisieren und in Form zu gießen (der Mahler’schen Idee gehorchend, dass das Schreiben einer Sinfonie gleichbedeutend sei mit dem Bauen einer Welt). Und es muss Schnebel keine Ruhe gelassen haben, dass hier für seine Begriffe doch noch etwas fehlte oder unterbelichtet blieb, ganz so wie Gott nach fünftägiger Erschaffung der Welt feststellte, dass noch der Mensch fehlte. So arbeitete Schnebel weiter und dehnte den Umfang seiner „Sinfonie X“ noch weiter, so dass man ironisch anmerken könnte, es sei wohl inzwischen eine „Sinfonie XXL“ geworden.

Zu diesen Wucherungen gesellte sich schon sehr bald ein zweites Moment bei Dieter Schnebel: das Verlangen nach Ordnung. Es scheint selbstverständlich, denn schon die Chaostheorien (denen Schnebel schon aus theologischer Neugier Interesse entgegengebracht haben muss) weisen darauf hin, dass es in Systemen, die die Fülle aller Bewegungen auffangen, die rätselhafte Tendenz gibt, Ordnungsstrukturen wachsen zu lassen. Schnebel muss sich dabei angesichts seines ganzen eigenen Werkes, das ebenso wie die Sinfonie (sie macht es nur aus sinfonischer Warte) die Totalität des Klingens einzufangen sucht, vorkommen wie zum Beispiel Linné angesichts des Tier- und Pflanzenreiches: Über Ober- und Untergruppen bahnt sich der Weg bis zur einzelnen Art, hier bis zum einzelnen Werk. So systematisiert Schnebel und kommt zu den Gattungen: Versuche, Für Stimmen, Projekte, Abfälle (I und II), Modelle, Räume, Radiophonien, Produktionsprozesse, Schulmusik, Re-Visionen, dann Tradition mit den Untergruppen „Alte Musik“, Kammermusik, Orchester, Kammertheater und drei weiteren (Nr. V bis VII), worunter sich (unter VI) auch die „Sinfonie X“ findet. Es geht weiter mit Psychologia, Experimentelles Musiktheater, Speromenti und schließlich Pezzi Sacri. Das räumt auf – oder es tut nur so, weil wir Menschen im Anblick der Unendlichkeit einfach erst einmal ein paar Gruppen bilden, um uns zurechtzufinden. Das machen wir auch manchmal, ohne den Dingen wirklich gerecht zu werden, etwa wenn wir mit dem Blick zum Nachthimmel Sternbilder formieren, deren einzelne Sterne kaum etwas miteinander zu tun haben. Das ist ein ptolemäisches, ein auf die Anschauungsformen des Menschen zentriertes Prinzip. Und Schnebel mag diese Sicht der Dinge, die vom staunenden Menschen ausgeht und die Ordnung um seiner Willen etabliert, durchaus recht sein: zugebend, dass das Erfassen der Totalität (was ist das eigentlich?) ohnehin auf wirklicher Basis (auch hier: was ist das?) nicht möglich ist. So aber werden die einzelnen Arbeiten Schnebels zu einem gigantischen Über-Werk, zu einem Kosmos der Klangerscheinungen, die mit kindlichem Bemühen (der biblische Auftrag „Seid wie die Kinder“ ist für Schnebel verbindlich) in ein System gebracht werden.

Wo bleibt die Musik, das Eigen-Erschöpfte? Auch hier ging Dieter Schnebel einen Weg, der kaum Gleiches kennt. Freilich gibt es John Cage als Vorbild, dessen Prinzip des unbedingten Loslassens, das die Dinge, die Klänge belässt, wie sie sind. Schnebel ist einer der wenigen Komponisten, die, um eine Anmerkung Heinz-Klaus Metzgers zu bemühen, nach Cage nicht komponierten, als sei nichts geschehen. Das Cage’sche Purgatorium ist ihm Auftrag. Aber er hat nicht die Ruhe des vollkommenen Loslassens, er will erfassen, er will den Menschen als Aktivum dagegen stellen. Die Klänge freilich sind auch bei ihm, wie bei Cage, jeglicher ästhetischen Wertung enthoben: oder doch nicht ganz, denn sie tragen alle schon den Makel menschlicher Be- und Vernutzung – und damit auch das Bemühen menschlicher Sinngebung. Und hier treten Theodor W. Adorno und Ernst Bloch auf den Plan, denen beiden der Ansatz von Cage fremd, ja fragwürdig blieb. Utopie, dieser zentrale Begriff im Denken von Bloch (und auch, wenngleich nicht so konkret ausformuliert, bei Adorno), ist nur denkbar, wenn wir uns als Menschen selbst orten, wenn wir also bestimmen, wo wir sind, wie wir sind, was wir sind und wenn wir andenken, was wir wollen, was möglich ist. Das Mögliche freilich wohnt im Bestehenden, äußert sich als Utopie. Dieses Bestehende aber, Basis für Ausblick wie für endgültigen Zusammenbruch, wird von Schnebel ausgelotet.

Und somit gibt es auch im Grunde keine eigene Musik Schnebels – auch hier ist er radikal wie kaum ein anderer Komponist der Gegenwart. Seine Klänge sind uneigentlich, entlehnt oder über Ecken gebogen. Sie entstehen durch artifizielle Verbiegungen von körpereigenen oder -fremden Organen, sie werden der Musikgeschichte entnommen, sie entstehen aus Prozess-Anordnungen. Und auch die gewissermaßen frei erfundenen musikalischen Strukturen wissen unmittelbar von ihrer Unfreiheit. Ein Walzer, ein Marsch, eine Fanfare, ein Cluster – alle tragen das Gepäck ihrer Geschichte und dazu in der Tragetasche das ihrer geschichtlichen Umwertungen mit sich. Der Satz „Valse“ in der Sinfonie denkt vom ursprünglichen volksmusikalischen Vergnügen eines Ländlers oder Drehers über den Wiener Kongress („Der Kongress tanzt“, war damals Motto), über die damals vollzogene Spaltung von „E“- und „U“-Musik, Leichtigkeit des Seins (unerträgliche?) bis zu Schwindel, Taumel des Drehens im Strudel und Untergang der Titanic (wie man Ravels „La Valse“ einmal beschrieb) oder gar des Abendlands. Komplexe Gefüge dieser Art leistet Schnebels Musik immer wieder: Freilich nicht, indem sie allein Gehör fordert, sondern indem sie die Aufmerksamkeit auf den ganzen historischen Hall-Raum hinter den Klängen erheischt.

Die Musik selbst ist uneigentlich, sie verweist auf die Bedingungen ihrer Produktion (etwa der Komplex der „Maulwerke“), auf musikphilosophische Reflexionen über Hören und Sehen (z.B. Ki-no oder MO-NO), auf Psychoanalytisches, auf Konditionen des Hörens oder eben auf den ganzen Komplex der geschichtlichen Befrachtung alles Erklingenden. Die Musik befindet sich stets im Prozess der Selbst-Betastung. Jedes Geräusch, jeder Klang, jede musikalische Wendung sind für Schnebel ganze Zeichensysteme, die in unterschiedliche, ja diametrale Richtungen weisen und sich zugleich als Total dem vernehmenden Ohr erschließen.

Das gelingt freilich nur einem Ohr oder besser einem Geist, dem dialektische Kritik zum Werkzeug des Verstehens gehört (spätestens seit Mahler wird solches Hören eingefordert). Denn die Brechungen, die in Schnebels musikalischem Material inhärent vorhanden sind, verlangen der hörenden Entschlüsselung. Ohne diese bliebe die Musik (also wenn sie pur aufgefasst wird) oft im Lapidaren, Verspielten, Zitatlüsternen hängen. Auch dann freilich bliebe noch ein Rest an Staunen über Fantasie, die Wendigkeit, die frechen Volten der Musik. Aber Schnebel ganz zu erfassen heißt, sich auf gebrochene Vielschichtigkeit unserer Wahrnehmung einzulassen. Eine Wahrnehmung, die den Raum zwischen einem Windhauch oder einem Stuhlrücken und Gott (oder nennen wir es Sinn des Daseins) auszufüllen bereit ist.

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