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Ornette Coleman (9. März 1930–11. Juni 2015) 1994 in Stuttgart. Foto: Kumpf
Ornette Coleman (9. März 1930–11. Juni 2015) 1994 in Stuttgart. Foto: Kumpf
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Der mit dem Kopf tanzt

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In memoriam Ornette Coleman
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Seine Töne glichen Frage- und Ausrufezeichen, die er in das Getriebe der Welt hineinwarf. Wichtig wurden die Beziehungen zwischen diesen Tönen. Neuverortungen, die Konventionen und Hierarchien zum Stürzen brachten. Ornette Colemans Lebenslauf mutet an wie eine Folge von Sprüngen und offenbart dabei zugleich eine staunenswerte Kontinuität. Wenn er, der von so vielen so lange verdächtigt wurde, ein Scharlatan zu sein, schließlich allenthalben als Genie apostrophiert wurde und zum Pulitzer-Preisträger aufstieg, so wohl vor allem deshalb, weil er eine Ahnung von einer Musik jenseits der Stile aufleuchten ließ, eine Musik auch jenseits der Stile des Jazz.

Zu seiner ersten Platte „Something Else!!!!“ von 1958 merkte Ornette Coleman in den Liner Notes an: „Ich glaube, dass die Musik eines Tages sehr viel freier sein wird. Dann wird man beispielsweise das Schema einer Melodie vergessen, und die Melodie selbst wird zum Schema werden und muss nicht mehr in konventionelle Raster gezwängt werden. Die Erschaffung von Musik ist etwas genauso Natürliches wie das Atmen.“ Das schrieb einer, der im schwarzen Ghetto von Fort Worth aufgewachsen war, in Verhältnissen, die er selbst als „poorer than poor“ bezeichnete, und der sich Saxophonspielen und Notenlesen selbst beigebracht hatte. Er ging mit Zeltshows auf Tour und spielte in Rhythm’n’Blues-Bands, die ihn feuerten, weil sein Ton zu schräg klang. Viele der Bebopper, die er verehrte, ließen ihn ebenso abblitzen.

Ornette Coleman hörte anders, fühlte anders, spielte anders, nahm die Welt anders wahr. Manifest wurde das 1959 mit „Tomorrow is the Question!“ und „Change Of The Century“. Ornette Coleman entwarf prägnante, zuweilen mit dem Blues konnotierte Melodielinien, stellte aber zugleich den Bezugsrahmen der Improvisation in Frage, indem er sich frei zwischen tonalen Zentren bewegte und eine sich in die Jazzgeschichte hineinbohrende Frage stellte: „Was spielt man, wenn man das Thema gespielt hat, wenn man sonst nichts hat, woran man sich festhalten kann?“ Im Quartett mit dem Trompeter Don Cherry, dem Bassisten Charlie Haden und dem Schlagzeuger Billy Higgins entstand eine Gemeinschaft, eingeschworen auf den Leitsatz: „Let’s play the music and not the background.“

„Let’s play the music and not the background“

1960 trieb Ornette Coleman die Ablösung von der Tradition noch weiter, indem er ein Doppelquartett formierte, das er in die Improvisation trieb, um die Form im Spiel zu erfinden: „Free Jazz.“ Damit hatte er bereits etwas von dem vorweggenommen, was John Coltrane fünf Jahre später mit „Ascension“ realisieren sollte. Trefflich die Abbildung auf dem Cover: ein Gemälde des Action-Painters Jackson Pollock. Wenn Ornette Coleman mit „Free Jazz“ einer ganzen Richtung im Jazz den Namen gab, dann gegen seine Absicht. Er war viel zu solitär, um eine Bewegung zu formieren oder eine Schule zu begründen.

„Sound ist revolutionärer als jede einzelne Stilrichtung.“ Ornette Coleman hat diesem, von ihm formulierten Satz immer neuen Ausdruck verliehen. So auch mit seiner Komposition „Skies Of America“, die er 1972 mit dem London Symphony Orches­tra aufnahm. Im Begleittext zur Platte erwähnte er erstmals den Terminus „Harmolodics“, der zum Nukleus seines musiktheoretischen Systems werden sollte. Unzählige kluge Köpfe haben versucht, diese oft in kryptischen Formulierungen umrissene Gedankengebäude einer Gleichberechtigung aller musikalischen Parameter zu deuten oder zu erklären. Doch so, wie Ornette Coleman Musik anders empfand als in konventionellen Bezugssystemen, entfaltete sich auch sein Denken in anderen Bahnen als in denen der westlichen Logik.

1973 machte sich Ornette Coleman auf den beschwerlichen Weg, auf eine Art Pilgerreise in das marokkanische Rif-Gebirge, um dort mit den in der Sufi-Tradition verwurzelten „Master Musicians of Joujouka“ zu spielen und in die Magie aus Trance, Tanz und Magie einzutauchen. Robert Palmer, der Ornette Coleman auf dieser Reise begleitete, resümierte später: „Ornette Coleman hatte ja schon vor langer Zeit seine eigene musikalische Realität geschaffen, eine ganze Klangwelt mit eigenen Regeln und Prozessen, mit eigener Logik. Aber er war immer noch zerrissen, befangen in dieser Hochkultur/Volkskultur- oder Kunst/Unterhaltungs-Dichotomie. Wenn die Leute sagten, dass er verstimmt spiele oder nichts von Struktur verstehe, dann musste ihn das einfach verletzen. Durch Joujouka hat er all das überwunden. Joujouka gab ihm seine Seele zurück und gab sie ihm heil zurück.“ Bald nach dieser Reise reifte Ornette Colemans Idee zu einer Band, in deren Spiel Körperlichkeit und Intellekt, tanzbare Rhythmik und flirrende Improvisationslinien spannend zueinanderfinden sollten. „Dancing With Your Head“ gab die Richtung für die Band vor, die den Namen „Prime Time“ bekam, beruhend auf der Kombination von zwei E-Gitarristen, zwei Bassisten, zwei Perkussionisten – ein komplexes, funkrhythmisches Klanggeschehen, in dem die Melodiefetzen des Altsaxophonisten wie Schlangenlinien aufblitzen.

Multiethnischer Humanismus

Ornette Colemans Neugierde und seine Offenheit führten ihn dazu, sich mit Stammes- und Rockrhythmen, mit Neuer Musik, indischen Ragas und Kompositionen von Johann Sebastian Bach zu beschäftigen. In der Zusammenarbeit mit Rappern entstanden Pop-orientierte Klangcollagen, im Dialog mit dem Pianisten Joachim Kühn kammermusikalische Improvisationen jenseits von Jazz und Klassik. In seinen späten Lebensjahren wirkte Ornette Coleman altersweise, ohne eine Spur von Verbitterung. „Befreit die Sounds vom Kas­tensystem“, rief er uns zu. In einem Gespräch mit mir fielen Sätze wie diese: „Was mich antreibt, ist jenseits der  Klassen, der Rassen, der Talente. Es gibt, so nimmt man an, 122 Rassen auf dem Planeten, und alle haben unterschiedliche Gesichter. Aber noch nie hat eine Rasse darüber gesprochen, in Beziehung zu einer anderen geschaffen worden zu sein.“ Joachim Kühn charakterisierte Ornette mit den Worten: „Wenn man sich zum Beispiel Musik als etwas mit einer Größenordnung von hundert Prozent und unser abendländisches Verständnis der Musik als fünfzig Prozent vorstellt, dann weiß er die anderen fünfzig Prozent.“ „Harmolodics“ bedeutete für Ornette Coleman letztlich mehr als ein musiktheoretisches Manifest: ein Bekenntnis zu einem multiethnischen Humanismus. 

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