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nmz 2000/10 | Seite 16
49. Jahrgang | Oktober
Wollte man die Musik des Komponisten Stefan Heucke mit poetischen Worten beschreiben, sollte man die Czernowitzer Lyrikerin Rose Ausländer sprechen lassen: „Es heißt/zwischen den Zeilen/das Unsagbare/sagen”. Stefan Heuckes Musik will sprechen, will erzählen. Sie scheut weder sangbare Melodien noch durchgängige Rhythmen. Mit tonalen Momenten versucht Heucke eine Brücke zu den Zuhörern zu bauen, damit sie dem, was seine Musik sagen will, lauschen mögen. Dem Gedicht „Lauschen” sind diese Verse von Rose Ausländer entnommen, und es ist wohl kein Zufall, dass es zu Beginn des Zyklus „Einverständnis” op. 21 für Sopran, Altsaxophon, Viola und Vibra- und Marimbaphon (1994) von Stefan Heucke steht.
Stefan Heucke
Der musikalische Weg, den Heuke eingeschlagen hat, führt ihn zwar nicht auf die Bühnen exponierter Festivals für Neue Musik, dafür aber stehen seine Kompositionen auf den Spielplänen renommierter Orchester. Sicherlich, der in Bochum lebende Komponist ist nicht der Einzige gewesen, der sich in den achtziger Jahren von der in Deutschland weit verbreiteten Serialismus-Nachfolge abwandte. Ebenso wollte Heucke keinen provokativen Kontrapunkt gegenüber einer damals sicherlich als dogmatisch zu bezeichnenden musikalischen Avantgarde setzen. Sein individueller Weg war es, eine musikalische Sprache zu entwickeln, deren thematisches Zentrum immer wieder von den großen Menschheitsfragen nach Gott, Leben, Tod, Schuld und Liebe gebildet wird. Das Œuvre Heuckes weist eine starke Bindung an literarische Vorlagen auf, die ebensolchen Sinnfragen nachspüren. „Sonne Sterne und Traum/erzählen/was vor deiner Geburt geschah/was nach deinem Tod sich ereignen wird”, heißt es weiter in „Lauschen” von Rose Ausländer. Schon das uralte Gilgamesh-Epos, eines der frühesten literarischen Zeugnisse der Menschheit, greift genau diese Fragen nach Leben und Tod auf. Dieser archaische Mythos inspirierte Heucke zur Komposition des großen Tanzoratoriums „Die Ordnung der Erde“ op. 30 für Tänzer, Solostimmen und Orchester. Es handelt vom Werden des Menschen, von der Bewusstwerdung des Ich über die Gemeinschaft mit anderen bis hin zur Todeserfahrung und dem Wunsch nach Unsterblichkeit. Die Uraufführung des abendfüllenden Werks wird am 27. Januar 2001 am Musiktheater Gelsenkirchen zu erleben sein. Für die Inszenierung zeichnet der Chef des hauseigenen Balletts Bernd Schindowski verantwortlich. Dabei legt Schindowski Wert auf eine enge Zusammenarbeit mit dem Komponisten. Heucke beteiligte sich an der Produktion der Probenbänder mit dem Orchester und ging in den Sommermonaten gemeinsam mit dem Choreografen in Klausur. Die Wahl einer tänzerischen Ausdrucksform korrespondiert für Heucke mit dem archaischen Ursprung der literarischen Vorlage. Der musikalische Gestus sei durchaus rhythmisch und akzentreich, trotzdem stehe das erzählerische Element im Vordergrund. Die Instrumentalteile sind orchestral und leitmotivisch nach sinfonischem Vorbild gearbeitet. Heucke stellt sich bewusst in die Tradition der klassischen Moderne. Seine Leitsterne am Komponistenhimmel heißen Bach, Schubert, Mahler und Schostakowitsch. Das mag man in seiner Affinität zu theologischen Deutungen, der häufig lyrischen Gedankenformung, einer engen Synthese von Text und Musik oder in einem teils sehr opulenten Instrumentalstil wieder entdecken.
Stefan Heucke wurde 1959 in Gaildorf/Baden-Württemberg als Sohn einer Beamtenfamilie geboren. Als Siebenjähriger erhielt er zunächst Unterricht auf der Blockflöte und der Violine. Erst 1973 begann er mit dem Klavierstudium, das er ab 1978 bei Renate Werner in Stuttgart fortsetzte. Aus dieser Zeit stammen die ersten beiden Werke, die Heucke in sein Werkverzeichnis aufnahm: Drei Lieder für Tenor und Streichquintett nach Gedichten von Georg Trakl op. 1 (1980) und „Chor der Geretteten” für Soli, Chor, Bläser und Schlagzeug nach einem Gedicht von Nelly Sachs op. 2 (1981). Es folgte ein Musikstudium an der Hochschule für Musik Detmold/Abteilung Dortmund. Erste öffentliche Aufmerksamkeit erregte die Aufführung seiner „Vier Orchesterstücke“ op. 5 im Rahmen des „Forums junger deutscher Komponisten für Orchestermusik” durch das Saarländische Staatsorchester unter Matthias Kuntzsch im Jahr 1995. Seitdem folgten zahlreiche Produktionen durch verschiedene Rundfunkanstalten. Im Auftrag der Evangelischen Kirche von Westfalen komponierte Heucke 1990 seine 1. Symphonie op. 12 für Soli, Chor und Orchester, die 1991 beim ev. Kirchentag im Ruhrgebiet gleich fünf Mal aufgeführt wurde. Ebenfalls 1990 erhielt er den Förderpreis der Stadt Dortmund für junge Künstler. Es folgten mehrere Reisen nach Russland mit Aufführungen in Moskau und Rostow. Unter dem Eindruck der Begegnung mit dem russischen Bajan-Spieler Vjatcheslav Semionov entstand das Quartett op. 16 für Bajan, Violine, Viola und Violoncello. 1996 erhielt Heucke ein dreijähriges Stipendium der Werner-Richard-Dr.-Karl-Dörken-Stiftung, das ihm erlaubte das Tanzoratorium „Die Ordnung der Erde” op. 30 in finanzieller Unabhängigkeit zu komponieren. Seit 1989 ist er als Dozent für Musiktheorie an der Musikhochschule Dortmund tätig.
Inzwischen kann Heucke nicht nur auf ein umfangreiches Werkverzeichnis verweisen, sondern vor allem auch auf eine ungewöhnlich große Zahl an Aufführungen. Selten bleibt es bei der Uraufführung, seine Musik wird gespielt. Zur Jahrtausendwende hatten gleich zwei Orchester, Bochum und Dortmund, Kompositionen für ihre Silvesterkonzerte in Auftrag gegeben. Das Privileg finanzieller Absicherung durch die zahlreichen Aufträge und die Bereitschaft der Orchester sowie einzelner Interpreten seine Musik aufzuführen, beflügelt offensichtlich die Fantasie und den Schaffensdrang des jungen Komponisten. Allein fünf neue Kompositionen, allesamt Auftragswerke, sind in Vorbereitung. Die Auseinandersetzung mit literarischen Vorlagen, von den frühesten Zeugnissen der Menschheit über die Dichter der Klassik und Romantik wie Friedrich Hölderlin und August von Platen bis hin zu Autoren der Gegenwart wie Franz Kafka, Nelly Sachs, Paul Celan oder Rose Ausländer scheint ständig Funken zu entfachen, die nur darauf warten im Feuer eines neuen Werks aufzugehen. Dabei ist Heucke sich sehr wohl seiner glücklichen Lage bewusst. Im Gespräch mit dem Komponisten lernt man zugleich den aufgeschlossenen und engagierten Menschen kennen. So schlägt er zum Beispiel in der Deutung seines Quintetts für Violine, Viola, Violoncello, Kontrabass und Klavier op. 25 (1995), das er als ein melancholisches Gegenstück zu Schuberts lebenszugewandten und heiterem „Forellenquintett” versteht, die Brücke von Schubert in die Gegenwart, in dem er durch die Gegenüberstellung unterschiedlicher Satzcharaktere auf die Spannung zwischen sehnsuchtsvollem Zurückträumen und brutal-gewaltätiger Realität verweist. In ebensolcher Spannung zwischen Einst und Jetzt steht der Klavierzyklus „Nacht-Urnen” op. 32 (1998/2000), in dem Heucke spätromantisches Pianistenraffinement mit strukturell-modernem Denken verknüpft.
Nicht nur innermusikalisch stellt Heucke sich den Gegebenheiten im Hier und Jetzt. Häufig stehen Konzerte unter dem Stern sozialen Engagements. Als besonders schöner Erfolg ist hier eine Benefiz-CD-Produktion des Märchens „Der selbstsüchtige Riese op. 20”, für Sprecher und Orchester, mit den Bochumer Symphonikern zu nennen. Darauf zu hören ist eine gelungene musikalische Umsetzung des gleichnamigen Märchens von Oscar Wilde. Der Erlös des Verkaufs geht zu Gunsten des Hospizes in Bochum-Wattenscheid.
„Ich will Geschichten erzählen.”, so lautet das aufrichtige Understatement des Komponisten. Denn hinter den Geschichten verbirgt sich ein großer musikalischer Einfallsreichtum, der auf eine ausgefeilte Beherrschung des Handwerks, besonders in der formalen Gestaltung sowie dem Einsatz der Instrumente, trifft. Kompositionen, auf die man hören sollte.