Über die „Freiheit der Perspektiven“, ein besonderes Leitmotiv von Hans Otte, sprach der Komponist und Freund Reinhard Schimmelpfennig auf einer katholisch wie vom Zen-Buddhismus geprägten Trauerfeier in Bremen. Als langjähriger Kollege, Nachfolger bei Radio Bremen und Freund möchte ich ein paar persönliche Erinnerungen hinzufügen.
Die erste Otte-Partitur – wir kannten uns noch nicht persönlich – habe ich als Mitglied der Jury für das Weltmusikfest in Köln Ende der 50er-Jahre gesehen. Kurze Zeit später gründeten wir die beiden Musikfeste „pro musica nova“ in Bremen und die „Tage der neuen Musik“ in Hannover. Beide hatten wir zunächst Schwierigkeiten zu überwinden, denn man bekämpfte uns wegen der Neuerungen. Das führte uns zusammen – gemeinsam waren wir stärker. Abgesehen von zahlreichen Aufführungen seiner Werke im Verlaufe des 40-jährigen Bestehens der Hannoverschen Musiktage spielte Hans Otte 1983 nach der erfolgreichen Uraufführung 1982 in Metz die deutsche Erstaufführung seines „Buch der Klänge“ in Hannover.
Anfang der 60er-Jahre verließ Hermann Scherchen die Leitung der Nordwestdeutschen Philharmonie in Herford, mit der er auch die symphonischen Orchesterproduktionen für Radio Bremen dirigierte, das eigene Rundfunkorchester war bereits 1958 aufgelöst worden. 1962 übertrug Otte, damals Hauptabteilungsleiter beim Sender, mir diese Aufgabe, die ich 34 Jahre ausübte.
1969 holte er mich als seinen Stellvertreter an den Bremer Sender. Gemeinsam konnten wir in diesen Jahren das Programm vergrößern und entwickeln. Bremen hatte unter anderem zeitweise die meiste Sendezeit für Neue Musik in der ARD.
Das Medium Rundfunk hat Otte schon früh fasziniert, und es galt für uns als praktische Musiker, über die Produktionsmittel und -möglichkeiten zu verfügen. Wir waren damals in Bremen ein Autorensender, und zwar auf allen Gebieten.
Otte war für uns ein „inspirierter Inspirator“. Es galt neue Hörerlebnisse zu vermitteln:
Experimente, welche durchaus nicht immer glücken mussten!
eine umfassende Darstellung der Weltmusik – so wie die ganze Welt klingt.
das Recht der Minderheiten, das Medium auch künstlerisch zu begreifen.
Bürokratie, Amtsanmaßung und Ignoranz waren ihnen stets verhasst, persönlicher Mut und Humor oft bewiesen. Neben der Musik war er dem Theater, der Literatur und der Bildenden Kunst verbunden.
Über wichtige Akzente Ottes wie zum Beispiel der Blick nach Amerika wird an anderer Stelle geschrieben. Er drängte mich 1982, noch vor der krankheitsbedingten Beendigung seiner Tätigkeit beim Sender, Schönbergs „Gurre-Lieder“ in der Originalbesetzung in Bremen aufzuführen, was exemplarisch gelang.In dieser Zeit vollzog sich im öffentlich-rechtlichen Rundfunk eine tief einschneidende Wandlung: Bedingt durch die vermeintliche Konkurrenz der privaten Anbieter gewann der Ruf nach höheren Einschaltquoten als Programmkriterium immer mehr an Bedeutung. Dieser beginnende kulturpolitische Kampf war nicht mehr Ottes Welt.
Im Dezember 1986 haben Solf Schaefer und ich die „Bremer Resolution“ zur Situation der Neuen Musik in den Hörfunkprogrammen der ARD initiiert, die von 18 namhaften Komponisten formuliert wurde. Bremen wurde als ein kulturpolitisches Zentrum der Neuen Musik für diese Proklamation ausgewählt.
Der gesetzliche Kulturauftrag des Rundfunks geriet aufgrund populistischer Tendenzen in Gefahr – das muss bis heute deutlich bei jeder Gelegenheit gesagt werden.
Für Otte untypisch war seine Bereitschaft im Präsidium des Deutschen Musikrates vier Jahre mitzuarbeiten. Wir waren beide mit Günter Bialas 1969 in Stuttgart neu in das Gremium gewählt worden.
1987 erhielt Otte in Bremen die selten verliehene Senatsmedaille für Kunst und Wissenschaft – auch das sollte nicht vergessen werden. Später richtete das Neue Museum Weserburg einen Klangraum für Hans Otte ein.
Mitte der 70er-Jahre begannen ernsthafte gesundheitliche Krisen. Nur wenige kennen heute noch den gesunden und vitalen jungen Mann, der den Lebensfreuden zugetan war.
Otte musste seine Lebensabläufe radikal ändern. Asien und seine Kultur traten nun in sein Blickfeld. Zusammen mit seiner Frau Ute, die ihn bis zuletzt liebevoll pflegte, fand er im Zen-Buddhismus unter anderem durch Reisen nach Japan Lebenshilfe, Ruhe und Erfüllung. Er konzentrierte sich nun auf das für ihn jetzt Wesentliche, nämlich komponieren und Klavier spielen. Er lebte in Bremen zurückgezogen und ging auf Distanz zum allgemeinen Musikbetrieb. In seiner Jugend gehörte er zu den so genannten „Hochbegabten“. Zeit für jüngere Menschen zu haben, war für ihn stets selbstverständlich.
Als Komponist der Avantgarde hinterlässt er ein umfangreiches Gesamtwerk. Jedoch erkannte er schon früh, dass die Entwicklung der Neuen Musik Gefahr läuft, in der heutigen Zeit in einer Sackgasse zu enden. Dem Wettkampf vieler Komponisten, immer kompliziertere Stücke zu konstruieren und gleichzeitig diese Ästhetik ideologisch zu doktrinieren, setzte er die „Freiheit der Perspektiven“ entgegen.
Töne, Intervalle und Klänge neu zu erfassen und zu entdecken, gelang ihm deshalb meisterlich im „Buch der Klänge“.
Drei Stücke aus dem wichtigen Werk, von ihm selbst in der berühmten Aufnahme eingespielt, konnte die Trauergemeinde als Abschied vernehmen. Wir können dankbar bekunden: Hans Otte hat sich um die Musik verdient gemacht.