Ein Jahrhundert-Künstler, der sich gegen seine Verdenkmalung wehrt – geht das? Mikis Theodorakis, Jahrgang 1925, letzter Universal-Musiker mit ziemlich erweitertem Kunstbegriff, macht es vor. Nachzuschauen auf YouTube. Zwei Minuten, die selbst dann erkenntnisfördernd wirken, wenn man des Griechischen nicht mächtig ist.
Athen, Februar 2015. Der frisch zum Ministerpräsidenten ernannte Alexis Tsipras im Gespräch mit dem Hochbetagten. Der erste Politiker trifft den ersten Künstler des Landes. Hierzulande zwar nicht so ganz unvorstellbar, aber unvorstellbar doch darin, wie solch ein Treffen zustandekommt, wer da bei wem um Audienz bittet. In diesem Fall ist es so: Nicht die Kunst klopft an bei der Politik, in Griechenland geht die Sache andersherum. Ein amtierender Ministerpräsident macht seinen Antrittsbesuch bei Theodorakis, beim verkörperten Gewissen des Landes. Das sieht privat aus, ist aber politisch. Und, wie bei Tsipras’ erster Amtshandlung (Besuch der Kesariani-Gedenkstätte für die Opfer der deutschen Besatzung), so ist auch dieser Termin ein Medienereignis durch und durch. Fotoapparate klicken, Kameras laufen:
Der Ablauf zunächst sehr klassisch: Austausch von Höflichkeiten, Lächeln hier, Lachen dort. Dann aber spricht im Wesentlichen einer – Theodorakis. Tsipras ist ganz Ohr und er bekommt zudem etwas, was ihm weder BILD noch FAZ zubilligen: eine ernste Miene. Inhaltlich dreht sich das Gespräch darum, dass Theodorakis sein Gegenüber mit einer Lebens-Überzeugung konfrontiert. Was ist das Wichtigste einer Regierung? Antwort: Das Volk mitnehmen! Steht, so Theodorakis, das Volk hinter der Regierung, kann sie nicht stürzen, was Tsipras natürlich toll fand. An anderer Stelle war (und ist) es ihm weniger angenehm, wenn dieselbe Institution Theodorakis ihn, Tsipras mitsamt Syriza darin kritisiert, dass man zum Bruch mit dem finanzökonomischen System eigentlich nicht fähig oder (noch schlimmer) nicht willens sei.
Konstante Musik
Man sieht: Nichts abwegiger eigentlich, als Theodorakis auf den Tonspur-Lieferanten eines Cacoyannis-Erfolgsfilms mit einer Kult gewordenen Tanzszene am Strand zu reduzieren. Zu erklären bleibt vielmehr, wie es kam, dass aus dem Komponisten, dem Sänger, dem Künstler Mikis Theodorakis eine Persönlichkeit der Zeitgeschichte geworden ist? Sicher, aus der Perspektive eines linken Ministerpräsidenten ist Theodorakis, zumal in seiner aktuellen Gebrechlichkeit, das Symbol für den Leidensweg der griechischen Linken. Nur, dass Theodorakis (der als Linker angefangen hat und noch lange nach seinem KP-Austritt 1972 mit der Linken identifiziert wurde) über solches Lagerdenken längst hinausgewachsen ist. Sichtbar wurde dies spätestens 1989, als er parteilos für die konservative Nea Dimokratia kandidiert hat, um die durch die korrupte sozialistische Papandreou-Regierung ausgelöste Krise überwinden zu helfen. Winkelzüge hat man gesagt, Rechte wie Linke haben gerätselt darüber. Theodorakis selbst hat das Überparteiliche aber mehr und mehr als Konsequenz seines Lebens begriffen und der bitteren Erfahrungen, die er in diesem Leben gemacht hat.
Angefangen hat Letzteres am 29. Juli 1925 auf der Insel Chios. Die Familie nicht reich, aber aufgrund der Stellung des Vaters als politischer Beamter auch nicht mittellos. Im hochliterarischen ersten Band seiner Autobiographie „Die Wege des Erzengels“ (Anspielung auf seinen geliebten Vornamen Michalis) schildert Theodorakis diese wechselhaften Jahre mit den immer neuen Dienstorten des Vaters und wie sich in dieser Ruhelosigkeit bei ihm eine Konstante herausbildet: die Erfahrung Musik. Als er den Wunsch äußert, Komponist zu werden, löst er damit in der Familie große Überraschung, ja Bestürzung aus: Niemand weiß, was das genau ist und ob man davon leben kann.
Andererseits: Von dem, was man landläufig „selbstbestimmte Entwicklung“ nennt, kann in diesen Jahren ohnehin nicht die Rede sein. Man vergegenwärtige sich nur, dass der junge Mikis sein Studium am Athener Konservatorium (wo eine Maria Callas gerade im Abschluss-Semester steht) erst aufnehmen kann, nachdem er von der Folterinsel Makronisos entlassen wird. Erst 1949 endet ja der so blutig geführte griechische Bürgerkrieg, ausgelöst als Folge der Okkupation erst durch italienische, dann durch deutsche Truppen. Eine Zeit, in die man zurückgehen muss, um noch die aktuellen Dispositionen, Einsprüche, Widersprüche zu verstehen. Terminus a quo: April 1941, Besetzung Griechenlands durch die Wehrmacht, wodurch dann auch der ebenso verträumte wie hochgewachsene Mikis Theodorakis in die Politik hineingerissen wird und doch auf dem Unterschied beharrt zwischen deutscher Gestapo, deutscher SS und deutscher Musik, die er in seiner Verbannungszeit Ende der 40er-Jahre ausgiebig studiert, Beethoven vor allem. Andererseits ist es so, dass sich in den Jahren des Widerstands gegen die Besatzer für ihn letztlich jene „Einheit des Volkes“ konstituiert, die ihm bis heute als Ideal vorschwebt und die – hier geht es schnurstracks ins Komponisten-Leben Theodorakis – mit wesentlichen Teilen seines Werkes in Korrespondenz steht. Für einen Komponisten, der im Grunde aus dem Melos des 19. Jahrhunderts kommt und diesem tief verpflichtet ist, müssen die Lieder und Liedzyklen automatisch einen bevorzugten Platz einnehmen, selbst wenn das Œuvre tatsächlich alle Gattungen, von der Kammermusik bis zur Oper umfasst. Nur, dass eben in allen diesen Verästelungen einer über Jahrzehnte währenden Werkentfaltung eben das Melos den gemeinsamen Nenner ausmacht. „Electra“, eine der letzten Theodorakis-Opern, entstanden Mitte der 1990er-Jahre, kann man geradezu als Reverenz hören an die Heroen des 19. Jahrhunderts, an Verdi, Puccini und an Bellini.
Was schließlich umgekehrt die Popularität seiner Lieder (in Griechenland) angeht, so hängt diese natürlich an den Theodorakis-Interpreten, die sich der großen Freiheits-Erzählung seines Werkes zur Verfügung gestellt haben. An erster Stelle zu nennen: Maria Farantouri, die mit ihrem Pathos-Kontra-Alt, ihrem unendlichen Legato die Theodorakis-Vertonungen der Gedichte des Poeten Jannis Ritsos so entschlossen aus der Geschichte in die Gegenwart geholt hat. Siehe die „Achtzehn kleinen Lieder für die bittere Heimat“ (Reaktion auf die Militärdiktatur), siehe (Reaktion auf einen blutig niedergeschlagenen Arbeiterstreik in den 30er-Jahren) Ritsos’ „Epitaphios“-Zyklus mit der Schmerz-Frage der Mutter: Pou petaxe t’agori mou – Wohin ist mein Junge geflogen.
Augenhöhe
Interessant aber zu sehen, dass besagte Interpretationsgeschichte mit und um Mikis Theodorakis weitergeht, dass sein Werk noch immer Quelle ist für künstlerische Inspiration. Auf eindrückliche Weise belegt dies eine jüngst erschienene Wergo-CD: echowand – Lieder von Mikis Theodorakis in deutschen Nachdichtungen von Ina Kutulas, bearbeitet für Gesang und Klavier vom jungen Münchner Komponisten Sebastian Schwab mit den Ausführenden Markus Zugehör, Klavier und der Berliner Sopranistin Johanna Krumin. Im August 2012 hat das Ensemble den greisen Komponisten in seiner Athener Wohnung besucht und ihm seine alten Lieder im neuen Kleid vorgestellt. 13 Bearbeitungen/Neukompositionen aus der Feder eines fast 70 Jahre jüngeren Kollegen, auf die Theodorakis mit der Begeisterung des Musikers reagiert, der er immer war und der in ihm immer noch schlummert. Was ihn insbesondere überzeugt, ist das Kunstmusik-Gewand, das Schwab um seine schwermütigen Melodien gelegt hat. Im Handumdrehen, so schildern es die Beteiligten, entsteht eine Arbeitsatmosphäre, in der allen Status- und Altersdifferenzen zum Trotz, auf der Basis künstlerischer Egalität an den neuen/alten alten/neuen Liedern gefeilt wird, am Sprachrhythmus, an den Betonungen, am Ausdruck, mit anderen Worten: eine deutsch-griechische Arbeitsgruppe auf Augenhöhe – recht selten in diesen Tagen und Wochen. Und sicher eines der schönsten Geschenke, die Mikis Theodorakis zum 90. Geburtstag bekommt.
- Mikis Theodorakis: Lieder in Bearbeitungen von Sebastian Schwab mit deutschen Nachdichtungen von Ina Kutulas; Interpreten: Johanna Krumin/Peter Schöne/Markus Zugehör Wergo WER 5120 2