Im Dezember 2017 hat die UNESCO die deutsche Orgelbaukunst und -musik zum immateriellen Weltkulturerbe erklärt. Medial schlug das hohe Wellen, zumindest kurzzeitig. Kann diese Auszeichnung aber auch dabei helfen, die Orgel aus ihrer (sakralen) Nische herauszuholen, gar populär zu machen? Einer, der es wissen muss, ist Philip Hartmann, seit 2005 Bezirkskantor für das Dekanat Ulm und Mitherausgeber des Standardwerks „Handbuch Orgelmusik“ (Bärenreiter/Metzler). Wir sprachen mit ihm über den „Orgelstandort Deutschland“ und darüber, warum es so schwer ist, Nachwuchs für die „Königin der Instrumente“ zu finden.
neue musikzeitung: Herr Hartmann, was bringt Ihnen und uns die Tatsache, dass die UNESCO die deutsche Orgelkunst nun als immaterielles Kulturerbe anerkannt hat?
Philip Hartmann: Wieviel es bewirken wird, muss man sehen. Auf jeden Fall hat es mediale Aufmerksamkeit erregt, was sehr gut ist.
nmz: Die meisten Menschen denken zunächst einmal an Kirchen, wenn sie das Wort Orgel hören. Muss man dem Instrument diesen sakralen „Geruch“ nehmen? Geht das überhaupt?
Hartmann: Es ist ganz klar ein Kircheninstrument und ein großer Teil der Orgelliteratur ist auch liturgisch gebunden, etwa durch Choralbearbeitungen oder gregorianische Themen, und von der ganzen Ausrichtung her auch für die Liturgie gemacht. Dazu kommt, dass, wenn die Orgelmusik wirklich begeistern soll, sie auch einen gewissen Raum braucht. Das muss nicht zwingend ein sakraler Raum sein, aber doch zumindest ein großer für die Akustik. Da spreche ich von größeren Dimensionen, als ein Konzertsaal ihn normalerweise bietet. Dieser hat in der Regel keinen großen Nachhall, das soll ja auch so nicht sein. Und es gibt nun einfach Orgelmusik, die mit dem Raum und dem Nachhall explizit rechnet. Insofern glaube ich nicht, dass man die Orgel daraus befreien muss, da kommt sie her und da gehört sie hin. Auf der anderen Seite gibt es schon auch Literatur und einen Platz für die Orgel außerhalb der Kirche. Was den Konzertsaal betrifft, kann man an das momentan wohl prominenteste Beispiel, die Elbphilharmonie, denken, mit der Organistin Iveta Apkalna. Das hat ein enormes Medieninteresse hervorgerufen.
nmz: Die UNESCO hat nun explizit die deutsche Orgeltradition und -baukunst zum Welterbe erklärt. Wie gerechtfertigt ist dieser nationale Bezug aus Ihrer Sicht?
Hartmann: Der Zusatz ist insofern gerechtfertigt, weil die Orgelkultur in Deutschland bereits alt und bedeutend ist. Es gibt hier eine unglaubliche Dichte an Instrumenten, auch an sehr guten. Und es gibt viele Orgelbaubetriebe, vor allem im Süden. Darunter sind einige wirklich große Betriebe, die weltweit exportieren und die etwa Konzertsaalorgeln in Ländern wie China oder Russland bauen. Die deutschen Firmen genießen hierbei einen guten Ruf.
nmz: Orgeln kosten Geld – nicht nur bei der Anschaffung. Was macht die Instrumente so teuer?
Hartmann: Das Problem bei Orgeln ist, dass sie gepflegt werden müssen, das heißt, sie sollten jährlich einmal von einem Orgelbauer gewartet werden. Es gibt alleine schon so viele einzelne Teile und so viele Möglichkeiten, dass eine Orgel kleinere Störungen entwickelt, die sollten eben beseitigt werden. Das heißt nicht, dass man jedes Jahr gleich eine Generalstimmung machen muss, es meint aber, dass ein Orgelbauer regelmäßig nach dem Rechten sieht. Dazu kommt, dass eine Orgel ungefähr alle fünfzehn Jahre ausgereinigt werden sollte. Dabei bedeutet das harmlos klingende Wort „Ausreinigung“ eine Komplettüberholung, bei der alle Pfeifen ausgebaut werden müssen. Und da rechnet man ganz grob etwa zehn Prozent des Neupreises der Orgel an Kosten. Es heißt immer, eine Orgel überdauere Jahrhunderte. Das stimmt schon auch – aber nur, wenn sie gepflegt wird. Daraus folgt, dass eine Orgel, egal wo sie steht, ständig laufende Kosten verursacht.
nmz: Welchen Kosten davon können die Kirchen tragen?
Hartmann: Für den Bau und die Renovierung von kirchlichen Orgeln dürfen keine Kirchensteuern verwendet werden. Deshalb muss dies in aller Regel aus Spenden finanziert werden. Natürlich gibt es auch Denkmalstiftungen oder staatliche vergleichbare Fördermittel, die man beantragen kann. Aber bei einer normalen Orgel, die nicht denkmalgeschützt ist oder einen besonderen Stellenwert hat, muss dies in der Regel alleine die Kirchengemeinde stemmen – und damit sind viele Kirchengemeinden schlicht überfordert. Sie brauchen jemanden vor Ort, der das in die Hand nimmt und betreibt und sich um die Einnahme von Spenden bemüht. Wenn es um Orgelrenovierung, -bau und -unterhalt geht, sind Orgelfördervereine eine ganz wichtige Institution. Das ist in Deutschland mittlerweile ziemlich verbreitet. Viele Gemeinden haben nicht nur einen Orgelförderverein im engeren Sinne, sondern einen Verein zur Unterstützung der Kirchenmusik.
nmz: Wie sieht es in Deutschland beim Thema Orgelbau-Betriebe aus?
Hartmann: Wie es sich mir darstellt, der ich ja selbst kein Orgelbauer bin, würde ich sagen, dass immer noch sehr viele Orgelbaubetriebe in Deutschland existieren. Wobei es einige wenige sehr große Betriebe gibt, dann einige mittlere und viele kleinere, die sich sicherlich auch mit Wartungsverträgen, Stimmungen und Reparaturen über Wasser halten. Ich glaube, dass es da sehr uneinheitlich aussieht und dass es außerdem einen ziemlichen Mangel an geeigneten Auszubildenden gibt. Was ich aus Gesprächen mit Orgelbauern heraushöre, ist, dass es schwierig ist, guten Nachwuchs zu bekommen.
nmz: Woran liegt das?
Hartmann: Die Anforderungen sind nicht gering; man muss handwerklich sehr begabt sein, zudem auch eine musikalisch-künstlerische Vorstellung mitbringen, im Idealfall auch Orgel spielen können. Und es ist ein Beruf, bei dem man nachher unter Umständen oft unterwegs, sehr viel auf Montage ist, wo es nicht immer mit einem Achtstundentag getan ist, um es vorsichtig zu sagen.
nmz: Und wie steht es um die Themen Ausbildung und Studium beim Thema Orgelspiel?
Hartmann: Wenn Sie Kirchenmusik studieren wollen, dann müssen Sie sehr früh beginnen, zumindest mit dem Klavierspiel. Klavier ist schlicht und einfach eine Voraussetzung. Danach sollte möglichst bald ein fundierter Orgelunterricht folgen. Dann müssen Sie auch noch singen können und ein gutes musikalisches Gehör haben. Die Bereitschaft muss da sein, sich voll darauf einzulassen. Für mich ist das nach wie vor einer der schönsten Berufe, aber Sie haben sehr unregelmäßige Arbeitszeiten, dafür regelmäßig Sonntagsdienst, abends Proben. Das heißt, es ist nicht unbedingt familienfreundlich. Sie müssen nicht nur sehr viel Zeit in Üben und Proben investieren, sondern auch in außermusikalische Aufgaben wie Organisation und Schreibtischarbeit. Ich selbst hatte schon begabte Schüler, die sicherlich die Fähigkeiten für das Studium gehabt hätten, die sich dann aber doch anders entschieden haben. Als Bezirkskantor mache ich seit vielen Jahren auch die Ausbildung der nebenamtlichen Organisten im Kirchenbezirk und da meine ich doch die Tendenz zu erkennen – und ich drücke das jetzt sehr vorsichtig aus –, dass die Schüler heute oft weniger gute Voraussetzungen mitbringen, als es vor einigen Jahren noch der Fall war.
nmz: Ich fasse zusammen: das Studium ist langwierig, man braucht nicht nur Begabung und Fleiß, sondern auch Durchhaltevermögen …
Hartmann: Man braucht sogar enormes Durchhaltevermögen, man muss beständig üben, von klein auf, und das bleibt auch im späteren Berufsleben so. Es haben inzwischen einige Kirchenmusikabteilungen an den Musikhochschulen schließen müssen, weil es teilweise zu wenig geeignete Bewerber gab. Ich glaube, diese Talsohle ist schon durchschritten; die Hochschule für Kirchenmusik in Tübingen ist zum Beispiel wieder ausgelastet. Es gibt aber nicht mehr so viele Bewerber wie früher. Da eine ganze Generation von Kirchenmusikern auf den Ruhestand zugeht und es gleichzeitig zu wenig Nachwuchs gibt, lässt es sich absehen, dass sich hier in den nächsten Jahren eine Lücke auftun wird und nicht mehr alle Stellen hauptamtlich besetzt werden können.
nmz: Gibt es zeitgenössische Komponisten, die für die Orgel schreiben? Sie selbst beschäftigen sich ja gerade intensiv mit Orgelwerken des US-Amerikaners Carson Cooman …
Hartmann: Ja, Carson Cooman oder Andreas Willscher sind wichtige zeitgenössische Komponisten, die beständig und auf hohem Niveau für die Orgel schreiben. Natürlich gibt es noch viele andere. In der Regel sind diese Künstler selbst Organisten oder sie haben zumindest eine entsprechende Ausbildung. Es gibt Komponisten, die die Orgel von vornherein links liegen lassen, weil sie das Instrument nicht attraktiv finden, die oft auch einfach nicht den nötigen Einblick, Zugang haben. Und dann gibt es diejenigen, die selbst vom Orgelspiel her kommen und für ihr Instrument komponieren. Aber das war, wenn man die Orgelliteratur betrachtet, sogar sehr oft der Fall. Einige der ganz Großen der Musikgeschichte waren selbst Organisten, man denke nur allein an Bach.
nmz: Jede Orgel ist anders, jede hat ihre Eigenheiten. Wie lange brauchen Sie als Organist, um mit dem jeweiligen Instrument warm zu werden?
Hartmann: Man muss als konzertierender Organist in der Lage sein, sich rasch auf Instrumente einzustellen und im Notfall mal ganz schnell ein Konzert einregistrieren und vorbereiten können. In der Regel versuche ich aber immer, mindestens einen ganzen Tag vorher da zu sein und einzuregistrieren – einfach auch deshalb, weil es wichtig ist, dass man sich mit dem Instrument auseinandersetzt. Es macht schließlich Freude und ist faszinierend, die bestmöglichen Klänge zu finden.
nmz: Warum kommen dann nur so wenige Menschen zu den Orgelkonzerten?
Hartmann: Die Erfahrung zeigt: wenn man Leute bei Orgelfahrten oder nach Konzerten ganz konkret an die Orgel heranführt und sie die Gelegenheit haben, das Instrument hautnah zu erleben und erklärt zu bekommen, ist die Begeisterung in der Regel groß. Es gibt Veranstalter, die bieten Orgelfahrten an, die sind in kürzester Zeit ausgebucht. Und trotzdem würden die gleichen Leute eventuell nicht in das Orgelkonzert in der Kirche vor Ort kommen. Das hat viele Ursachen. Ein ganz wichtiger Grund ist: Es hat immer noch diese sakrale Aura. Die Orgel hat mit dem Vorurteil zu kämpfen, dass die Musik langweilig ist; dazu kommt auch, dass man den Organisten in der Regel nicht sieht. Bei allen anderen Konzerten sehen die Leute den Künstler, sie können applaudieren, es ist eine Kommunikation da. In den USA ist das in der Regel anders, da steht der Spieltisch sichtbar unten in der Kirche, was eine sehr direkte Kommunikation ermöglicht. Aber es gibt auch Orgelkonzerte wie im Kölner Dom oder im Freiburger Münster, die sind in der Regel voll, da müssen sie rechtzeitig da sein, um überhaupt noch einen Platz zu bekommen. Das sind Phänomene die sich schwer erklären lassen. Wenn Sie den Status erreichen, dass gesagt wird: Da geht man hin, dann haben Sie es geschafft (lacht).
Interview: Burkhard Schäfer