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Archaischer Duktus: Felicitas Kukuck. Foto: Erbengemeinschaft F. Kukuck
Archaischer Duktus: Felicitas Kukuck. Foto: Erbengemeinschaft F. Kukuck
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Die Phantasie entzündet sich an den Worten

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In der Biographie der Komponistin Felicitas Kukuck spiegeln sich deutsche Zeitläufte auf exemplarische Weise
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Eine Melodie steigt in Sekundschritten auf, hin und wieder fällt sie für zwei Achtel zurück und nimmt neuen Schwung, bis sie in natürlichem Moll die obere Oktave erreicht hat und von dort aus in absteigenden Dreiklangssequenzen zurück zum Grundton führt: So einfach und so wohldurchdacht hat die Komponistin Felicitas Kukuck ihr bekanntestes Werk gesetzt. „Es führt über den Main eine Brücke aus Stein“ heißt das Lied. Mit ein paar Federstrichen hat Kukuck die Notenlinien als Brückenbogen auf Papier geworfen, darunter den Text, fertig ist das deutsche Pendant zu „Sur le pont d’Avignon“.

Wer war diese Felicitas Kukuck, die man sonst höchstens noch als Verfasserin von Kirchenmusik und pädagogischer Literatur kennt? In die Spanne von achteinhalb Jahrzehnten zwischen 1914 und 2001 passt ein Leben, in dem sich auf beeindruckende Weise deutsche Zeitläufte spiegeln.

Anlässlich Kukucks 100. Geburtstag am 2. November dieses Jahres finden in Hamburg zahlreiche Jubiläumskonzerte statt. Zu verdanken ist die beachtliche Veranstaltungsdichte Margret Johannsen, Tochter und Biografin der Komponistin. Sie sei wie eine Handlungsreisende in Sachen Kukuck herumgezogen, sagt Johannsen lachend. Auf den Programmen stehen Lieder und Kammermusik in unterschiedlichsten Besetzungen und „Das Märchen vom dicken fetten Pfannkuchen“ als Puppentheateraufführung mit Kinderchor. Den weit überwiegenden Teil jedoch bilden Chorwerke geistlichen und weltlichen Inhalts.

Das ist kein Zufall. Vokalmusik bildet den Löwenanteil in Kukucks mehr als 1.000 Werke umfassendem Schaffen. Der Text spielt bei ihr eine bedeutende Rolle. Es seien die Worte, die sie entzündeten, hat sie einmal gesagt. Ihre Textauswahl zeugt von einem unerschrockenen Geist. Aus dem kecken Tonfall ihres Liedes „O grüne Zeit“ nach Alfred Kerrs Gedicht spricht die Stimme einer Frau, die selbstbewusst in die Abgründe des Liebeslebens sah. Vor allem aber hat sie sich komponierend vehement politisch geäußert, etwa in dem Zyklus „Lieder gegen den Krieg“. Bis ins hohe Alter griff sie Chiffren des Schreckens auf wie Auschwitz, Hiroshima und Tschernobyl.

Denn auch ihre eigene Vita war geprägt von der Brutalität einer Diktatur. Felicitas Cohnheim, wie sie mit Mädchennamen hieß, galt nach der Nazi-Terminologie als „Vierteljüdin“, weshalb die Eltern sie von der gleichgeschalteten Lichtwarkschule nahmen und nach dem fernen Juist ins Internat schickten. An der Berliner Musikhochschule studierte sie zunächst Klavier und Querflöte und wurde 1937 als frisch diplomierte Musiklehrerin sogleich mit Berufsverbot belegt. Ihre Rettung war die Heirat 1939 mit Dietrich Kukuck; dank dessen possierlichem Nachnamen entging sie der nationalsozialistischen Mordmaschinerie.

Ähnlich entschieden wie ihre Themenwahl, war Kukucks Entscheidung für ihren stilistischen Weg. Den Grundsätzen ihres Lehrers Paul Hindemith, bei dem sie bis zu dessen Emigration 1938 Komposition studiert hatte, hat sie zeitlebens die Treue gehalten – und ist mit ihm ins Abseits der öffentlichen Wahrnehmung geraten. Tonales, gar narratives Komponieren, das musste ja den Hohn der Musikszene aus Darmstadt und Donaueschingen auf sich ziehen, die im Nachkriegsdeutschland die Lufthoheit über die zeitgenössische Musik beanspruchte.

Kukucks Adressaten waren andere. Unübersehbar das Repertoire, das sie allein für Singkreise, Kirchen- und Kinderchöre, für Blockflötenschüler und junge Pianisten hinterlassen hat. Sie pflegte, bewusst auf einen bestimmten Anlass hin zu komponieren und war sich nicht zu schade, die spieltechnischen Anforderungen auf die Fähigkeiten ihrer Interpreten zuzuschneiden. Dabei hat sie ihre Musik keinesfalls auf dem Altar der Banalität geopfert. Wie Hindemith, sah sie in der sogenannten Sekundbrücke das wesentliche Element für ein gutes, und das hieß für sie auch und vor allem: sangbares Lied. Das Prinzip bedeutet schlicht, dass eine Melodie sich in Halb- und Ganztonschritten auf- und abbewegt. Zwischen den Zielpunkten der Melodieabschnitte entstehen Brücken im Sekundabstand, wie eben in dem Lied von der Brücke über den Main. Es stellt gleichsam ihr künstlerisches Manifest dar, jedenfalls für den Bereich, mit dem man sie bis heute in Verbindung bringt.

Kukucks Name ist im deutschen Musikleben schon länger verblasst – außer in Hamburg. Der Prophet gilt nichts in der eigenen Stadt? Die Komponistin ist womöglich die vielbeschworene Ausnahme zur Regel. Im Stadtteil Blankenese jedenfalls, dem Ort, an dem sie fünf Jahrzehnte ihres Lebens verbrachte und nach der Trennung von Dietrich Kukuck schreibend und unterrichtend vier Kinder großzog, ist ihr Geist bis heute spürbar. Als 2004 die vielbeachtete Ausstellung „Viermal Leben“ im dortigen Gemeindehaus exemplarisch an die Schicksale jüdischer Blankeneser erinnerte, hat Kukuck gleichsam postum dazu beigetragen. Zur Eröffnung erklangen Lieder von ihr auf Texte von Selma Meerbaum-Eisinger, die als junges Mädchen aus Czernowitz deportiert wurde und in einem Arbeitslager starb.

Nicht von ungefähr findet sich gerade in Kukucks Spätwerk so tiefsinnig-hermetische Musik wie „Die Tänze der Mirjam“ für Viola solo aus dem Jahre 1988. „Felicitas Kukuck geht sehr einfühlsam mit dem Klangspektrum des Instruments um und erzeugt fast expressionistische Wirkungen“, sagt die Hamburger Bratschistin Bettina Rühl. Sie hat anlässlich des 100. Geburtstags an einer CD-Produktion mit Liedern und Kammermusik von Kukuck mitgewirkt.

„Die Musik hat mich einfach inspiriert“, ergänzt der Pianist Eberhard Hasenfratz, Spiritus rector der Unternehmung. „Zunächst habe ich in dem archaischen Duktus vor allem die Einflüsse ihres Lehrers Hindemith erkannt. Aber je mehr ich mich mit der Musik beschäftigte, desto mehr traten ihr eigener Gestus, ihre eigene Sprache hervor.“

In den Liedern und Miniaturen, betitelt etwa als Fantasien, Tänze und Zaubersprüche, zeigt sich eine Facette der Felicitas Kukuck, die es noch – oder wieder – zu entdecken gilt.

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