Dass sich derzeit die Zentenarien von Komponisten der Nachkriegsavantgarde häufen, sollte dazu anregen, aus einer gewissen zeitlichen Distanz heraus die Bedeutung dieser Persönlichkeiten zu überdenken. In diesem Sinn sind die nachfolgenden Gedanken zum einhundertsten Geburtstag des am 29. Januar 1924 in Venedig geborenen Komponisten Luigi Nono zu lesen.
Die Selbstverständlichkeiten zur Disposition stellen
Als 1980 im Rahmen des Bonner Beethovenfests Luigi Nonos Streichquartett „Fragmente – Stille, An Diotima“ uraufgeführt wurde, war die öffentliche Resonanz groß. Der Umstand, dass Nono ein Werk ohne Einbeziehung elektronischer Komponenten geschaffen und damit dezidiert einen Beitrag zu einer zentralen Gattung der europäischen Kunstmusik geleistet hatte, sorgte für lebhafte Diskussionen; und der scheinbar völlige Verzicht auf die für sein vormaliges Schaffen charakteristi-schen Insignien politischen Engagements verleitete rasch dazu, dem Komponisten einen resignierten Rückzug in die Innerlichkeit zu unterstellen. Dem widerspricht freilich die Kompromisslosigkeit der Musik, die sich durch eine spieltechnisch herausfordernde, von Pausen und dynamischen Extremwerten im Pianobereich gestützte Erkundung ständig wechselnder Klangfarbenkombinationen auszeichnet. In die Partitur integrierte Fragmente aus Dichtungen Friedrich Hölderlins, mit denen die konventionelle Notenschrift in den Bereich der Imagination erweitert wird, die mehrmals auftauchende Vortragsanweisung „mit innigster Empfindung“ aus Beethovens Streichquartett op. 132 und die gegen Schluss eingearbeitete Tenor-Melodie aus der Johannes Ockeghem zugeschriebenen Chanson „Malheur me bat“ bilden zudem ein Raster aus Bezügen, das die Interpretierenden immer wieder aufs Neue herausfordert.
Kulturgeschichtliche Verortung
Aufgrund solcher Spuren ist Nonos Streichquartett weit weniger ungewöhnlich, als es auf den ersten Blick erscheint, nutzte der Komponist doch schon früh explizite oder implizite Bezugnahmen, um seine Musik innerhalb eines übergreifenden kulturgeschichtlichen Geschehens zu verorten. Dementsprechend formulierte er in seinem Darmstädter Vortrag „Geschichte und Gegenwart in der Musik von heute“ (1959) die Forderung, „künstlerisch-kulturelle Phänomene“ aus ihrem „geschichtlichen Zusammenhang“, aus den Beziehungen zu ihren Ursprüngen und mit Blick auf ihre „Wirksamkeit im aktuellen Dasein“ unter Berücksichtigung der ihnen „innenwohnenden Möglichkeiten“ zu betrachten, weil man nur auf diese Weise der Geschichte „mitsamt ihrem evolutiven und konstruktiven Prozeß“ gerecht werden könne. Unabdingbare Voraussetzung hierfür sei allerdings der Wille zur bewussten Reflexion künstlerischen Tuns im Kontext der eigenen historischen und gesellschaftlichen Situation: ein Zusammenhang, der das Wissen um den Funktionswandel von Kunst ebenso umfasst wie die Kenntnis aktueller Produktionsmittel, Techniken und Werkzeuge.
Die bewusste Erschließung dieser Aspekte beginnt für Nono in den späten 1940er-Jahren, als er sich gemeinsam mit dem um vier Jahre älteren Bruno Maderna intensiv mit Drucken und Handschriften aus der Biblioteca Nazionale Marciana auseinandersetzte. Mit diesem durch tiefgehende theoretische und analytische Erschließung der kulturellen Schätze Venedigs geprägten Lebensabschnitt geht ein wachsendes Gespür für die soziale Funktion von Musik und Kunst einher. Dieses beginnt sich in der kompositorischen Einbeziehung präexistenter Rhythmen und Melodien zu manifestieren und gibt sich anhand der gewählten Sujets – so im dreiteiligen „Epitaffio per Federico García Lorca“ (1951–53) oder in der Komposition „La victoire de Guernica“ für Chor und Orchester (1954) – als engagierte Befragung von Ereignissen der jüngsten Vergangenheit zu erkennen. Solchen Spuren folgt Nono auch, als er Mitte der 1950er-Jahre sowohl den melodisch-harmonischen als auch den rhythmischen und dynamischen Bereich seiner Kompositionen systematisch nach Maßgabe von Reihen zu konfigurieren beginnt und in Werken wie „Il canto sospeso“ für Soli Chor und Orchester (1955–56) zu neuen und seine kompositorische Praxis bis in die späten Werke hinein prägenden Formen des musikalischen Satzes und der Sprachbehandlung findet.
Gesellschaftliche Verantwortung
Im Bemühen darum, als Künstler gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen, weicht die Auseinandersetzung mit der jüngeren Vergangenheit ab den 1960er-Jahren einem geschärften Blick auf die Gegenwart, der die Verstrickungen des Individuums in eine von sozialen Schieflagen und politischen Verwerfungen geprägte Gesellschaft kritisch hinterfragt. Das Private entpuppt sich dabei als ständige Kehrseite des Öffentlichen, da der Mensch auch im Kreis intimsten Miteinanders nie unberührt von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen seiner Existenz ist. Die szenischen Aktionen „Intolleranza 1960“ (1960–61) und „Al gran sole carico d’amore“ (1972–74/1977), die Kompositionen „La fabbrica illuminata“ für Stimme und Tonband (1964) und „A floresta é jovem e cheja de vida“ für drei Sprechstimmen, Sopran, Klarinette, fünf Kupferplatten und Tonband (1965–66) sowie viele weitere Projekte dieser Zeit arbeiten sich teils lehrstückartig, teils dokumentarisch an entsprechenden Szenarien ab, nehmen Bezug auf die moralischen Verpflichtungen gegenüber den Mitmenschen und zeigen Möglichkeiten des politischen Handelns im Angesicht von Unterdrückung und Gewalt auf.
Damit einhergehend beginnt sich Nonos Arbeitsweise zu verändern und in verstärktem Maße gegenüber den produktiven Einflüssen von Interpret*innen zu öffnen: Die Ausführenden werden von Anfang an in einen experimentell geprägten Prozess der Materialgewinnung eingebunden, dessen Ziel letzten Endes die Erschließung neuer Ausdrucksdimensionen ist. Auf dieser Grundlage entstehen Schlüsselwerke wie „... sofferte onde serene ...“ für Klavier und Tonband (1974–77) und das Streichquartett, doch auch die seit Beginn der 1980er-Jahre in den Blick rückende Erkundung der live-elektronischen Klangumformung und damit in Verbindung stehender instrumentaler wie vokaler Vortragsarten erschließt sich Nono auf vergleichbare Weise. In diesem Kontext offenbaren Arbeiten wie „Quando stanno morendo. Diario polacco 2°“ für vier Frauenstimmen, Bassflöte, Violoncello und Live-Elektronik (1982), die monumentale „Hörtragödie“ „Prometeo“ (1981–84/1985), die Komposition „Risonanze erranti. Liederzyklus a Massimo Cacciari“ für Mezzosopran, Flöte, Tuba, sechs Schlagzeuger und Live-Elektronik (1985–87) oder das Stück „Caminantes … Ayacucho“ für Mezzosopran, Flöte, kleinen und großen Chor, Orgel, drei Orchestergruppen und Live-Elektronik (1986–87), dass Nono keineswegs auf politische Aussagen verzichtet, diese nun aber durch geschichtlich-philosophische Reflexionen stärker zu profilieren versucht. Insofern weitet sich der Horizont seiner Musik, weil sie sich den überzeitlichen Aspekten dessen zuwendet, was dem Menschen als soziales Wesen im öffentlichen und privaten Kontext widerfährt und dabei das Vergangene auf verborgene Möglichkeiten hin abtastet.
Utopisches Potenzial
Dass Nono bei alldem häufig scheinbare Selbstverständlichkeiten des Musizierens zur Disposition stellt, macht gerade heute das utopische Potenzial seiner Musik aus: Denn während die meisten seiner Werke gut dreieinhalb Jahrzehnte nach dem Tod des Komponisten in ausgezeichneten Aufnahmen vorliegen und viele davon sogar mehrfach eingespielt wurden, ist ihre Präsenz im Kulturleben eher marginal und bleibt – sieht man von einigen kleiner besetzten Kompositionen ohne Live-Elektronik und den beiden szenischen Aktionen ab – vor allem auf die gelegentliche Wiedergabe durch spezielle Interpret*innen im Rahmen von Festivals beschränkt. Dass demgegenüber beispielsweise die zentralen Orchesterwerke der späten Jahre, „A Carlo Scarpa, architetto, ai suoi infiniti possibili“ (1984) und „No hay caminos, hay que caminar … Andrej Tarkovskij“ (1987), nur selten Eingang in Konzertprogramme finden, erscheint ebenso symptomatisch wie die allgemeine Unlust an einer Beschäftigung mit den medialen Voraussetzungen seiner Musik.
Über die Ursachen hierfür lässt sich trefflich spekulieren: Es mag sein, dass das differenzierte Austasten mikrointervallischer Bereiche als zu aufwändig und probenintensiv angesehen wird, um sie in einem Musikbetrieb zu verankern, der primär auf rasch programmierbare Events ausgerichtet ist. Und möglicherweise ist es darüber hinaus auch der eingleisigen Ausbildung an den Hochschulen geschuldet, dass das notwendige Rüstzeug für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Nonos Musik weitgehend fehlt. Denn gerade die interpretatorische Selbstbefragung, die sich aus dem Zusammenschluss des Menschen mit dem klangverändernden System der Live-Elektronik ergibt und zu einem intensiven Erproben minimaler Nuancen und dessen Auswirkungen auffordert, fällt durch die Maschen eines Studiums, in welchem vor allem die Erfolgsquote zählt und der Einsatz von Technologie als unnötige Zutat und Zeitverschwendung empfunden wird. Viele der von Nono formulierten musikalischen Utopien halten daher in den Partituren einen dauerhaften Schlummer und warten auf ihre nächste Erweckung.
Zum Nachlesen:
- Friedrich Geiger, Andreas Janke (Hrsg.): Venedig – Luigi Nono und die komponierte Stadt. Zur musikalischen Präsenz und diskursiven Funktion der Serenissima, Münster 2015
- Irene Lehmann: Auf der Suche nach einem neuen Musiktheater. Politik und Ästhetik in Luigi Nonos musiktheatralen Arbeiten zwischen 1960 und 1975, Hofheim 2019
- Jonathan Impett: Routledge Handbook to Luigi Nono and Musical Thought, London 2019
- Martha Brech: Der komponierte Raum: Luigi Nonos „Prometeo, tragedia dell’ascolto“, Bielefeld 2020
- Matteo Nanni: Politik des Hörens. Zur Lesbarkeit Luigi Nonos, Hofheim 2022
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