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„Ich spiele, was ich will“ – Gunnar Geisse. Foto: Rolf Schoellkopf
„Ich spiele, was ich will“ – Gunnar Geisse. Foto: Rolf Schoellkopf
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Dieses Bewegen im halbdunklen Fühlwissen

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Mehr als Jazz: Gunnar Geisse und seine „Wannsee Recordings“ im Porträt
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Der Wahl-Münchner Gitarrist und Komponist Gunnar Geisse hat den Jazz hinter sich gelassen. Nach mehr als drei Jahrzehnten in der Szene zählt er inzwischen zu den Pionieren der elektronischen Musik und entwickelt Klänge und Konzepte, die in die Zukunft weisen.

Es geht um Freiheit. Das schreibt sich so leicht, ist aber vorläufiger Zwischenstopp eines jahrelangen Prozesses der Reflexion und Veränderung. Gunnar Geisse ringt, fast immer lustvoll, darum, am Ende das endlich realisieren zu dürfen, was er innerlich die ganze Zeit hört. Dieser Prozess ist anstrengend aus der Perspektive der Innenschau, aus der Perspektive des Hörers allerdings nicht. Er führt zu Phasen des Innehaltens, aber auch zur Explosion von Kreativität, wenn sich endlich all die Stränge zusammenfügen, die vormals nebeneinander als Einzelteile der Auseinandersetzung existierten.

Eine Zeitlang hat Geisse sich mit nicht-linearen Systemen beschäftigt, mit mathematischen, physikalischen und psychoakustischen Näherungen an Musik, folgte der Komplexitätstheorie und Simulation, versuchte der als öde empfundenen traditionellen Funktionsharmonik über Mikrotonalität und abstrakte Tonverhältnisse auf die Spur zu kommen und einen gangbaren Weg zu finden, das Ganze auf einen harmonischen Boden aufzubauen. „Tabula rasa und Neuanfang“, sagt er selbst dazu.

„Das harmonische mikrotonale System, das ich daraufhin aufgebaut habe, hat funktioniert und ich trage es als Erlebnis seitdem in mir – und es ist zudem online einsehbar. Viele Sachen kamen zusammen, einerseits eine Sehnenscheidenentzündung im Anschluss an übermäßiges Üben, die Frage, ob er die Gitarre überhaupt wieder würde in die Hand nehmen können, die Entdeckung des Computers als Steuerungseinheit für Klänge, dann der Sprung auf die nächste Ebene, als er einen Weg fand, der das Instrument mit dem Laptop verbindet. Der Laptop steuert die Gitarre nicht, er wandelt jedoch die eingehenden Audio-Informationen in MIDI-Steuerbefehle und manipuliert die MIDI-Informationen um.

„Ich hatte schon so viel gemacht,“ erinnert er sich an diese Phase des Übergangs. „Die normale Gitarre war mir einfach zu langweilig geworden. Ich wollte die Welt der Klänge unter den Fingern haben, nicht nur den einen Sound. Ich habe mich viel mit Komposition beschäftigt, liebe gleichzeitig die Improvisation und wollte das ad hoc verfügbar haben. Mit einem Mal kam dann alles zusammen: das Wieder-Spielen-Können, das Steuern des Rechners, der theoretische Background, das Kompositorische. Es hat sich vieles aufgelöst. Ich brauche keinen Plan mehr, in dem ich mich beispielsweise an Mikrotonalität abarbeite. Ich mache einfach, ich spiele, was ich will. Es ist alles wie gesprengt. Ich folge der Musik, hörend in mir. Was habe ich da gebaut? Etwas, das ich nicht mehr hundertprozentig kontrollieren kann.

Es ist zu komplex, was mir sehr gut gefällt. Ich spiele, reagiere darauf, was die Maschine daraus macht, lasse mich überraschen. Es entsteht ein Feedback, eine Schleife, die mich am Laufen hält, eine Art sich ständig verändernder Kreislauf.“ Das widerspricht der Idee, daraus ein Album zu machen. Und doch wieder nicht, denn es ist Musizieren auf einer Ebene, das Strukturkonstrukte wie etwa das Zitat hinter sich lässt, weil daraus etwas Neues, nämlich das Eigene, entsteht. Gunnar Geisse sieht und hört Verbindungen. Inspiriert von den inszenierten Fotos des Künstlers Jeff Wall versteht er beispielsweise Samples als akustische Fotografie, als von anderen produzierte und nun wiederverwendete Abbilder von Wirklichkeit. Es sind erspielte vorhandene Klänge, in spontane Zusammenhänge gesetzt, die ein ungewohnt intuitives Konzept von Solo-Aufnahmen ergeben.

Denn Geisses „Wannsee Recordings“ (NEOS11720-21) sind vieles auf einmal. Entstanden über eine Woche hinweg überwiegend im Haus eines Freundes in der Nähe des Wannsees, kombinieren sie so ziemlich alles, was akustisch vorhanden ist, Noise und klaren Klang, Form und Auflösung, gesampelte Natur und elektronische Verfremdung, Pathos und Minimalismus, Solo-Haltung und Ensemble-Anmutung, Rhythmus/Puls und Drone/Fläche: Musik als Zeitkunst und Musik als Skulptur. Aus der Vielzahl der Aufnahmen, die in Berlin und später in der süddeutschen Künstlerkommune Boschhof entstanden, hat Geisse zwei CD-Seiten zu einer Suite kombiniert, in der Form nur fixiert durch die Zwänge des Tonträgers. Es sind Zwischenbilanzen, Ausblicke, mitten im Gespräch und als solche faszinierend offen: „Ich habe mir erst nach den Aufnahmen die Frage gestellt, ob ich jetzt nachahme, möglichst ohne dass man es merkt, oder nur Sachen nehme, wo man klar erkennt, dass es nicht sein kann, was es vorgibt zu sein. Ich bin im Nachhinein froh darüber, mich auf keine Seite geschlagen zu haben. Das Vage, Offene, dieses Bewegen im halbdunklen Fühlwissen finde ich besonders reizvoll.“ Musik, die von der Werkästhetik hin zu einer bekennenden Prozessästhetik schwenkt, ohne dass der Künstler darüber verzweifelt. Das ist neu, eine Form von Freiheit – nach dem Intellekt.

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