Lateinamerikaner und Wahlkölner – wie Mauricio Kagel, dessen Werk er verbunden ist. Pianist und Komponist – wie Béla Bartók, den er als Vorbild nennt. Zugleich unzufrieden mit den Rollen, die das Musikleben anbietet. Als Interpret möchte Paulo Alvares nicht auf den ausführenden Automaten reduziert werden und als Komponist mehr sein als der Autor, der das „Werk“ hervorbringt. Was bleibt?
Lateinamerikaner und Wahlkölner – wie Mauricio Kagel, dessen Werk er verbunden ist. Pianist und Komponist – wie Béla Bartók, den er als Vorbild nennt. Zugleich unzufrieden mit den Rollen, die das Musikleben anbietet. Als Interpret möchte Paulo Alvares nicht auf den ausführenden Automaten reduziert werden und als Komponist mehr sein als der Autor, der das „Werk“ hervorbringt. Was bleibt? Zwischen Scylla und Charybdis hindurchsteuern ins Offene. Für Paulo Alvares beginnt dieses Gewässer jenseits der Zwickmühlen des Kunstbetriebs, der zwischen Nachahmen und Neuschöpfen, Interpretieren und Kreieren säuberlich unterscheidet, Mischungen möglichst ausschließt oder an den Rand drängt. Ein Drittes darf es nicht geben. Tertium non datur.Dass es gleichwohl an der Zeit ist, nach diesem Dritten zu fragen, es forschend hervorzubringen, gehört zum künstlerischen Credo dieses Musikers. Nachrichten von neuen Kontinenten kursieren ja schon des Längeren. Dass deren Überbringer selbst große Distanzüberwinder waren, liegt in der Natur der Sache. Paulo Alvares jedenfalls hat sich angewöhnt, Ernst zu nehmen, was Boten wie Cage oder Kagel, Ives oder Bartók übermitteln. Auch wenn sich deren Botschaften zuweilen widersprechen, der eine mehr hier, der andere eher dorthin weist – offensichtlich ist, dass der Status des Gerüchts überwunden ist, auf den hin auch kein Columbus seine Nussschale bestiegen hätte.
Was liegt hinter dem Wasser, das uns von dem anderen Kontinent trennt? Woraus ist das Neuland gemacht? Antworten darauf, soviel ist für Paulo Alvares allerdings auch klar, gibt es nicht im vorhinein, gewissermaßen als Tischvorlage für geneigte Investoren und Sponsoren. Doch war das je anders? Stets begann doch der allgemeine Jubel über ein neuentdecktes Land nachdem dessen Verwertungsmöglichkeiten offenbar waren.
Für die, die sich am Herkömmlichen reiben, weil sie deren Unzulänglichkeiten sehen, heißt es zunächst Entdeckungsfahrten zu initiieren – am besten als und im Team, was wiederum bereits Columbus nicht verkehrt fand. Auch Paulo Alvares geht Verbindungen ein, sucht Bündnispartner und Mitstreiter, gründet neue Ensembles, beteiligt sich an Bestehenden wie dem Kölner Solisten-„Ensemble Contrasts“ und anderen Formationen, deren Repertoire bei Debussy beginnt und nicht endet. Wem zudem wie Paulo Alvares mit Hilfe von Scherz und viel Selbstironie die Transformation der menschlichen Grundeigenschaft, die Eitelkeit heißt (sie eine Schwäche zu nennen, zeugte von allzu leichtfertiger Besserungshoffnung), in eine für andere kommunikable Form gelungen ist, ist der Realisierung seiner künstlerischen Ziele ein gutes Stück näher gekommen – zumindest steht er sich selber nicht mehr im Weg.
Dieser Weg beginnt für Paulo Alvares in Brasilien, wo er 1960 geboren wird. 1985 bis 1987 studiert er in den Vereinigten Staaten Klavier bei Steven de Groote (Bach bis Haydn), Kammermusik bei Caio Pagano und kommt anschließend mit einem zweijährigen DAAD-Stipendium zu Aloys Kontarsky nach Köln. 1990 erhält er den Kranichsteiner Musikpreis und gewinnt mit seinen „aleatoric mobiles“ (für Keyboard und Orchester) 1991 den 1. Preis beim Wettbewerb „Musik kreativ“. Als Solist konzertiert er in allen großen Musikzentren und ist zu Gast bei den bedeutendsten Festivals für zeitgenössische Musik.
Der Pianist Paulo Alvares wird 1996 freier Mitarbeiter des Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchesters für die WDR-Reihe „Musik der Zeit“. Seine ersten Solo-CDs mit der gesamten Klaviermusik von Mauricio Kagel und Gerhard Stäbler werden noch in diesem Jahr erscheinen. 1997 schließlich wird der Ensemblemusiker Alvares Dozent für Aleatorische Kammermusik an der Kölner Musikhochschule und gründet 2000/2001 „Zyklus“, ein Festival für Neue Kammermusik.
Zu den ungewöhnlichsten Formationen, die auf seine Initiative zurückgehen, gehört das von ihm 1999 aus Kölner Musikhochschulstudenten zusammengestellte „Ensemble für Improvisation und aleatorische Musik“. Ein solches Ensemble ausgerechnet an der Kölner Musikhochschule aus der Taufe zu heben, passt zur Experimentierfreude der Stadt und ihrer (rheinisch-künstlerisch-aufgeschlossenen) Bewohner. Längst ist dieser Prozess, sind die einschlägigen Namen und Institutionen in die Geschichte der neueren Musik hineingeschrieben.
Dass der Witz jedoch nicht darin besteht, das Denkmal seiner selbst zu errichten, sondern die Bewegung weiterzutreiben, liegt für Paulo Alvares auf der Hand. Nicht umsonst steht ein „Ensemble für Improvisation und aleatorische Musik“ ganz offenkundig in der Tradition der Kagel-Nachfolge an der Kölner Musikhochschule. Ob damit zugleich schon der Stoff selbst bezeichnet ist, aus dem das musikalische Neuland geformt ist, bleibt offen. Auf jeden Fall bezeichnet es einen Weg dorthin. Das Leichte, das schwer zu machen, aber nicht unmöglich ist.
Als die von Alvares geleitete Kölner Studenten-Formation anlässlich eines Gerhard Stäbler-Porträts in der Düsseldorfer Tonhalle dessen Abschlussarbeit „drüber“ aus dem Jahr 1972/1973 interpretiert – ein Stück in dem cello-, syntheziser- und tonbandgestützt auf alle mögliche Weise und meistens aus Leibeskräften geschrien wird – sorgt dies trotz eindeutiger Zaunpfahlwinke auf Hans Leo Haßlers „Aus tiefer Not“ immer noch für indigniertes Kopfschütteln. Acht Schreier auf einer Bühne! Nein, so etwas! Darüber sind wir doch hinaus!
Das „Ich-kann-ich-will-nit-verstan“ wird vermutlich auch über das Konzertjahr 2002 hinaus noch auf manchen Gesichtern geschrieben bleiben. Dass man „es“ schließlich doch tun muss, dass die Musik wie jede Kunst vor keinem Ausdruck und vor keiner Äußerung, und seien sie noch so radikal, zurückschrecken darf, dass vielmehr das Bedürfnis dazu ins Körperlich-Instrumentale übersetzt werden muss - darauf, wie Paulo Alvares, zu beharren, heißt, seinen Weg gehen. Wer alles immer „richtig“ macht, macht alles verkehrt. Ohne Mut ist die Kunst Krampf.