In einem seiner luzideren Momente nennt der geistvolle Hidalgo Don Quixote von der Mancha die Zeit „große Entdeckerin aller Dinge“. Doch wie immer ist das, was der kühne Ritter sagt, mit Vorsicht zu genießen. Denn die Zeit verschüttet doch auch vieles, wenn nicht sogar das meiste, von dem, was einmal war. Im vorliegenden Fall allerdings trifft beides zu. Die Zeit hat etwas verdeckt und deckt es zwei Jahrhunderte später wieder auf.
Eine Entdeckung für Liebhaber des Kontrapunkts
Bei diesem Etwas handelt es sich um das Werk Joseph Martin Kraus’. Ein Komponist, der sich mit Wolfgang Amadeus Mozart fast auf den Tag die Lebensdaten teilt, aber einen entschieden anderen Lebensweg gegangen ist und einen ganz eigenen Stil entwickelt hat. Durch seine Anstellung am schwedischen Hof war Kraus von den musikalischen Entwicklungen in der Musik Joseph Haydns relativ unberührt. Das bedeutet, dass wir es mit einem klassischen Komponisten zu tun haben, der andere formale Organisationsprinzipien finden muss als diejenigen, die uns wohlbekannt sind. Diese findet er in strenger kontrapunktischer Anlage, wobei die harmonischen Bereiche eine untergeordnete strukturelle Rolle spielen. Das ermöglicht ihm eine befreite harmonische Sprache und extrem originelle formale Anlagen. Es überrascht nicht, dass Kraus sein Traktat „Wahrheiten über die Musik“ mit einer Erklärung kontrapunktischer Kunstfertigkeit und ihrer Meister im 18. Jahrhundert beginnt. Dort findet man denn auch eine ganze Liste an Rokoko und frühklassischen Komponisten, die alle ein besseres Image vertragen könnten, als sie es zurzeit haben.
„Eines der größten Genies, die ich je gekannt habe“
Seinen Zeitgenossen war Kraus sehr wohl ein Begriff: Bei Christoph Willibald Gluck hat er vieles von seinem Handwerk gelernt und Haydn hat ihn bei seiner Reise nach Wien getroffen und ihn später als „eines der größten Genies, die ich je gekannt habe“ bezeichnet. Auch noch sieben Jahre nach seinem Tod erschien bei Pleyel in Paris sein Flötenquintett. „Originalität findet sich in allen Arbeiten von Kraus, und also auch hier“, wurde dort über das Werk geschrieben.
Es stellt sich also die Frage, warum die Werke dieses Mannes in Vergessenheit geraten sind, wurden sie doch zu Lebzeiten und auch danach noch so hoch geschätzt?
Der Geschichtsschreibung zum Opfer gefallen
Die einzig plausible Vermutung liegt in der Art und Weise, wie im 19. Jahrhundert Musikgeschichte geschrieben wurde. Mit der kanonischen Verehrung Johann Sebastian Bachs, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchgesetzt hat, ist die allgemeine Wahrnehmung des Barocks stark verschoben worden. Indem Bach zur Vollendung des Barock erklärt wurde, schien die Musik Haydns, die Bach unmittelbar folgte, in der allgemeinen Wahrnehmung wie eine uneinholbare Veränderung.
Haydns Musik war durch die einfache Tatsache kanonisiert, dass sich die weiteren großen Komponisten des ausgehenden 18. und anbrechenden 19. Jahrhunderts auf seine Formprinzipien berufen haben. Für die Zeit dazwischen blieb auf einmal kein Raum mehr, weil sie sich nicht in das etablierte Narrativ bringen ließ. So verschwanden Gluck, Carl Philipp Emanuel und Johann Christian Bach, die Mannheimer Schule und viele weitere Komponisten über die Zeit fast vollständig von den Bühnen und aus den Musiksälen. Die Linearität der Laienmusikgeschichte war für diese Periode aufgehoben.
Vergessen …
Diesem Trend dürfte auch Joseph Martin Kraus zum Opfer gefallen sein, der darüber hinaus das Pech hatte, sich nicht in Wien niedergelassen zu haben und so nicht ins Triumvirat Haydn, Mozart und Beethoven eingefügt werden konnte. Ein weiteres Problem, das Kraus von größerer Verbreitung fernhält, wird in der Pleyel- Rezension (nach ausführlichem Lob) ausgemacht. Dort wird „die Behandlungsart mehr ernst und gelehrt, als galant“ gekennzeichnet. Dem Kenner eher als dem Liebhaber ans Herz gelegt. Das ist sicherlich richtig. Kein Werk mit kontrapunktischer Anlage wird je einfach zu hören sein. Doch stört so etwas bei Bach, Mahler, dem späten Beethoven und anderen Künstler*innen nicht und man sollte sich davon beim Hören sicherlich nicht verrückt machen lassen.
… und wiederentdeckt
Seit dem Jubiläum seines 200. Todestages im Jahr 1992 sind viele seiner Werke im Carus Verlag erschienen. So findet man sämtliche Streichquartette dort im Angebot sowie das Flötenquintett und seine Chormusik. Auf dem Label des Carus Verlag ist ebenfalls eine hervorragende Einspielung der meisten Quartette durch das Salagon Quartett zu finden. Darüber hinaus hat das Concerto Köln seine gesamten Sinfonien auf zwei CDs aufgenommen und das schwedische Kammerorchester hat sämtliche Orchesterwerke bei Naxos im Angebot. Einige seiner Opern sind dort ebenfalls erhältlich. Alle genannten Aufnahmen findet man ebenfalls im Streaming-Angebot. Außerdem wird seine c-Moll Sinfonie immer häufiger im Konzertsaal gespielt. Sie ist zusammen mit dem g-Moll Quartett ein hervorragender Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit seinem Werk. Wer also diese fantastische und gänzlich andere Musik erkunden oder gar selbst spielen möchte, hat inzwischen vielfältige Möglichkeiten und ist herzlich eingeladen, das zu tun.
Auf dass die Zeit einmal mehr zur großen Entdeckerin werde!
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