In den letzten Jahren ist er langsamer und bedächtiger geworden, komponiert wird heute kaum noch. Doch das Werk, das er in mehr als sechzig Jahren geschaffen hat, ist einzigartig in seiner Vielfalt und gedanklichen Tiefe. Klaus Huber, der am 30. November neunzig Jahre alt wird, ist einer der letzten aus der Generation der Komponisten, die das Gesicht der westeuropäischen Nachkriegsmoderne nachhaltig geprägt haben.
L’art pour l’art hat er nie produziert, sondern es ist ihm stets darum gegangen, mit Musik das Bewusstsein der Menschen und damit die Welt zu verändern. Darin ist er geistesverwandt mit dem ebenfalls 1924 geborenen Luigi Nono. Und für beide gilt der Grundsatz: Politisch-gesellschaftliche und kompositionstechnische Reflexion bilden eine Einheit, Kompromisse werden nicht gemacht. Doch während Nono direkt an das Erbe der italienischen Resistenza anknüpfen konnte, früh zum Parteigänger der Linken wurde und sich mit sechzig Jahren in die abstrakt-humanistische Geis-teswelt des „Prometeo“ zurückzog, ist bei Huber eine gegenläufige Entwicklung zu beobachten. Seine frühen Werke erforschen verborgene Innenwelten und zeigen eine Vorliebe für mystisch angehauchte Barocklyrik, und den ersten großen Markstein in seinem Schaffen setzt er mit dem komplex gearbeiteten Oratorium „Soliloquia“ nach Augustinus. Unter dem Einfluss der kritischen Theologie von Dorothee Sölle und Johann Baptist Metz sowie der Studentenproteste von 1968 wandelt sich dann die religiös grundierte Weltsicht immer stärker zur gesellschaftspolitischen Stellungnahme. Die Begegnung mit der politisch-religiösen Poesie von Ernesto Cardenal, dem linken Priester aus Nicaragua, katapultiert Huber in den 70er-Jahren endgültig in die Position eines Künstlers, der sein Schaffen als Aufschrei gegen das Unrecht der Welt versteht und daraus Werke von beeindruckender Sprachgewalt und Überzeugungskraft gewinnt. Im politischen Oratorium „Erniedrigt – Geknechtet – Verlassen – Verachtet …“ von 1984 – die Titelworte stammen aus dem Kommunistischen Manifest, die wichtigsten Textteile von Cardenal – nimmt seine Parteinahme für die Entrechteten und Deklassierten erstmals konkrete Gestalt an.
Mit siebzig ein Aufbruch zu neuen Ufern
Klaus Huber ist der seltene Fall eines Komponisten, der sich in einem Alter, in dem andere auf ein abgerundetes Lebenswerk zurückblicken, noch einmal neu erfunden hat. Ein ähnlicher Fall ist nur noch Strawinsky, der ebenfalls mit siebzig nach neuen Horizonten Ausschau hielt und seriell zu komponieren begann. Bei Huber war es in den 1980er-Jahren der neue Blick auf die Dritteltönigkeit und nach 1990 auf das arabische Tonsystem. Beides hat sein Komponieren von Grund auf verändert. Vorformen solcher Abweichungen vom temperierten System findet man bei ihm zwar schon 1965 in „Alveare vernat“ für Flöte und Streicher, wo ebenfalls Drittel- und Vierteltöne vorkommen, aber erst jetzt setzt er seine Erkenntnisse systematisch im Kompositionsprozess ein. Vom Streichtrio „Des Dichters Pflug“ und dem Ensemblewerk „La terre des hommes“ bis zu der 2001 in Basel uraufgeführten Mandelstam-Oper „Schwarzerde“ verfeinert er die durch mildere Dissonanzen charakterisierte dritteltönige Harmonik immer mehr. Die arabische Stimmung tritt ab 1994 dazu; es ist das Jahr der Uraufführung von „Die Erde dreht sich auf den Hörnern eines Stieres“ für arabische und europäische Musiker und des Orchesterstücks „Lamentationes de fine vicesimi saeculi“. Die arabischen Maqamat hat Huber zwar gründlich studiert, doch nimmt er sich beim Komponieren alle Freiheiten. Sie sind für ihn nicht verpflichtendes Regelwerk, sondern bilden eine pragmatische Erweiterung seiner bisherigen Kompositionstechniken, in denen sich postserielle und tonale Verfahren, Zitatencollage und Rückgriff auf die polyphonen Kabinettstücke der alten Niederländer zu einem kunstvollen Synkretismus verbunden haben.
Die raffinierte Synthese unterschiedlicher kultureller Einflüsse beschränkt sich nicht auf die technische Seite des Komponierens. Sie betrifft sein ganzes Weltbild und damit auch die musikalischen Inhalte. Klaus Huber wird zum Prototyp eines Komponisten in der Ära der Globalisierung. Während seine frühen Kompositionen mit Texten von Augustinus über Mechthild von Magdeburg bis zu Catharina Regina von Greiffenberg und Andreas Gryphius noch tief in der europäisch-christlichen Vergangenheit wurzeln, geraten mit geschärftem politischem Bewusstsein nun die Konflikte der Gegenwart ins Blickfeld. Aber auch diese sind immer in einen weiten kulturgeschichtlichen Horizont eingebettet. Mit Ernesto Cardenal wirft er den Blick auf das Elend in Lateinamerika. Die Beschäftigung mit Person und Werk von Ossip Mandelstam, die mit der Entwicklung der Dritteltönigkeit einhergeht, ist auch eine Abrechnung mit dem menschenverachtenden Sowjetkommunismus. Die Hinwendung zum arabischen Tonsystem geht Hand in Hand mit der Parteinahme für Palästina und der nostalgischen Erinnerung an die frühmittelalterliche arabische Hochkultur eines Avicenna und al-Farabi.
Drittweltelend und Wohlstandsneurose
In der Hinwendung zu den fremden Kulturen ist die Parteinahme für die Elenden und Unterdrückten in jenen Weltgegenden stets inbegriffen. Den Zwiespalt des im Wohlstand lebenden europäischen Gutmenschen, der sich für die Armen der Dritten Welt engagiert, hat Huber dabei nicht übersehen. Im Programmheft zur Donau-eschinger Uraufführung seines gro-ßen Oratoriums „Erniedrigt – Geknechtet …“ schrieb er 1983: „Ich bin mir der Absurdität meiner Situation als Komponist inmitten des satten, übersatten, immer wahnsinniger nuklear aufgerüsteten Europa wohl bewusst. Diesen Grundwiderspruch mit seiner ganzen Neurose, die uns alle befällt, wenn wir uns einem solchen Thema nähern, habe ich versucht, mitzukomponieren.“
Die innere Zerrissenheit ist denn auch ein Kennzeichen vieler Werke von Klaus Huber. In ihnen zeigt sich eine Grundspannung zwischen Erschrecken und Utopie, Anklage und Befreiungshoffnung, Wutausbruch und Glaubensperspektive. Eine ästhetische Strategie des Widerspruchs, in der die menschliche Stimme als konkreter Ausdrucksträger und Vermittler von Inhalten eine prominente Rolle einnimmt und die musikalische Rede zur politisch motivierten, humanistischen Botschaft mutiert. Zwischen dem prosaischen Referieren von Fakten und dem hochexpressiven Schrei decken Hubers Vokaltechniken alle Schattierungen ab. Der Vokallaut als Ausdruck des Menschen schlechthin wird zudem auf die Instrumentalmusik projiziert. Manche komplex durchstrukturierten Orchesterstellen klingen wie instrumentale Schreie. Im rein instrumentalen Passionsdrama „Tenebrae“ (1967) ist das Röcheln und Ächzen des gekreuzigten Jesus auf fast unerträglich realistische Weise auskomponiert. Im Kammerkonzert „Die Seele muss vom Reittier steigen“ (2002) über einen Text von Mahmoud Darwish erklingt zu Beginn ein gemeinsamer instrumental-vokaler Schrei aller Beteiligten, der die in Darwishs Poesie beklagte menschliche Not klingend erfahrbar macht.
Erbarmungsloser Blick auf die Gegenwart
Hubers gesamtes Werk, weitab vom gängigen, harmlosen Avantgarde-Biedermeier angesiedelt, konfrontiert uns mit einem erbarmungslosen Blick auf unsere wenig erfreuliche Gegenwart. Deren Schrecken spiegelt es weitgehend indirekt, nämlich in ihrer Wirkung auf die Innenwelt des Menschen. Seine Musik zeigt seine seelischen Verheerungen, das Prekäre seiner Existenz, seine Hoffnung auf diesseitige Befreiung und jenseitige Erlösung, wobei im einzelnen Werk diese Aspekte untrennbar inei-nanderfließen und in eine komplex gearbeitete Großform eingeschmolzen sind. Auch in den Werken mit extrem kulturpessimistischer und geradezu apokalyptischer Perspektive dominiert aber letztlich der utopische Gehalt.
Hemmungslose Anklage, sperrige Formen, Kritik an den Institutionen, prophetische Ermahnungen und religiöse Bekenntnisse in einer atheistischen Umgebung: Solche Ingredienzien eines überaus facettenreichen Werks machen Klaus Hubers singuläre Stellung in der gesamten heutigen Musiklandschaft aus. Sie stempelten ihn aber auch lange zum Außenseiter, dem man lieber aus dem Weg ging – seine Botschaften waren zu unbequem und seine Werke außerdem schwierig aufzuführen. Anerkennung in Form von großen Preisen und Auszeichnungen haben sich spät, aber doch noch rechtzeitig eingestellt. Nun wäre es am Betrieb, ihn durch Aufführungen seiner Werke angemessen zu würdigen.